Fast zehn Jahre war er als Vorsitzender das Gesicht der Grünen. Auch unter der neuen Doppelspitze Habeck/Baerbock hat sein Wort großes Gewicht. Cem Özdemir über Bürgerbeteiligung, den Umgang mit Populisten und die Grünen auf dem Weg zur Volkspartei.
Herr Özdemir, es gibt kein größeres Projekt, auch kein Verkehrsprojekt mehr, das nicht auf den Widerstand von Bürgerinitiativen trifft. Kritiker sagen, man könne kaum noch ein Projekt ohne Gegenwind voranbringen. Haben Sie dafür Verständnis?
Es ist normal und wichtig, dass Bürger in einer Demokratie mit ihrer Meinung gehört werden. So können widerstrebende Interessen ausgeglichen und Folgen abgeschätzt werden. Wenn jedoch zwischen Planungsbeginn und Baufreigabe im Durchschnitt zehn bis fünfzehn Jahre liegen, dann hakt es offenbar. Was sich immer wieder zeigt: Je früher man Bürger und Umweltverbände mit einbezieht, umso besser für das Projekt und die Betroffenen. Aber es bräuchte auch mehr Personal in den Behörden und Gerichten, um Planungen und Genehmigungen zügig und sauber abzuarbeiten. Und wenn man dann im Laufe dieser Planung feststellt, dass sich Prognosen als falsch erweisen, dann fällt doch keinem ein Zacken aus der Krone, wenn man ein Projekt nochmal grundsätzlich infrage stellt.
Sie fordern schon lange nicht nur Nachdenken über einzelne Projekte, sondern eine grundsätzliche Verkehrswende in Deutschland.
Das sage ja nicht nur ich, das sagen viele in der Wissenschaft. Das sagt inzwischen auch die Bundeskanzlerin und sogar in Teilen der Automobilwirtschaft sieht man, dass es so nicht weitergehen kann. Wir spüren die Folgen der Klimakrise, wir haben es im Sommer erlebt. Deshalb müssen wir jetzt handeln. Es geht um ein Zieldreieck: Wir sind ein IndustrieÂstandort und wollen unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten. Zweitens geht es um Jobs. Das sind in der Automobilindustrie ziemlich viele, dazu in der Zulieferindustrie, und daran hängen ja auch Familien. Und drittens geht es ums Klima, Lebensqualität und saubere Luft. Man darf das eine nicht gegen das andere ausspielen. Deshalb sprechen wir von der Verkehrswende. Dazu gehört, dass sich auf Dauer die Antriebsart beim Auto ändern muss, der fossile Verbrennungsmotor wird sich auf kurz oder lang verabschieden – das sagt mittlerweile sogar der Chef von VW. Die einzigen, die das noch anders sehen, sind von der Dinosaurierfraktion und sitzen auf der Regierungsbank. Mobilität heißt aber nicht nur Auto, sondern auch Bahn, Bus, Fahrrad, Fußgänger. Da braucht es gute Alternativen und die sind in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt worden. Es gibt ganze Regionen, da ist der Schulbus der einzige Bus, der fährt, und in den Ferien geht gar nichts. Die Leute haben ein Recht darauf, sich von A nach B bewegen zu können, und das muss komfortabel, bezahlbar und umweltfreundlich sein. Das müssen wir in der Politik besser hinkriegen.
In Katowice ist über die konkrete Umsetzung der als einmal historisch genannten Beschlüsse des Pariser Klimagipfels gerungen worden. Deutschland hinkt den eigenen Zielen deutlich hinterher.
Nicht nur das. Deutschland gehört leider zum Lager der Klimasünder. Wir echauffieren uns über Donald Trump. Aber Trump hat nicht nur deutsche Vorfahren, sondern in Klimafragen auch glaubwürdige Vertreter in der deutschen Politik, denn die Große Koalition ist näher bei Trump, als ihr recht sein kann. Wir sind Weltmeister bei der Braunkohle, da bin ich nicht stolz drauf. Deutschland allein ist für über ein Fünftel des CO2-Ausstoßes der gesamten EU verantwortlich. Was wir bräuchten, ist eine CO2-Bepreisung. Der Verkehr hat bisher gar keinen Anteil zur Reduzierung beigetragen, im Gegenteil. Da muss sich dringend etwas tun! Die gute Nachricht dabei ist: Wir haben in Deutschland alles, was wir dafür brauchen. Gut ausgebildete Facharbeiter und Ingenieure, einen großartigen Mittelstand und Spitzenunternehmen, tolle Forschungseinrichtungen und innovative Start-ups. Was fehlt ist der Mut in der Politik. Aber das kann man bei Wahlen ändern.
Die Grünen werden ja bereits als neue Volkspartei gehandelt. Wie sehen Sie die Veränderungen und Verschiebungen in der Parteienlandschaft?
Das sind wirklich tolle Umfragewerte für uns Grüne, das motiviert! Aber wir müssen auf dem Teppich bleiben, denn so etwas kann sich auch schnell wieder ändern. Natürlich hat es viel mit unserer Stärke zu tun, mit unserem Personal, unseren Themen Klimaschutz und liberale Demokratie, aber es hat auch mit der Schwäche der anderen zu tun. Es ist kein Naturgesetz, dass das immer so bleiben muss. Insofern ist Demut da durchaus angemessen. Was die Union betrifft: Der Rückzug nach rechts wird nicht funktionieren. Man kann keine Stimmen von der AfD zurückgewinnen, indem man die AfD kopiert. Sonst hätte die CSU in Bayern ein grandioses Ergebnis erzielen müssen. Hat sie aber nicht. Im Gegenteil, sie hat eine krachende Niederlage eingefahren, weil sie es auf eine sehr plumpe Art versucht hat. Also rate ich der Union dazu, darauf zu achten, dass sie in der Mitte bleibt. Und wenn sie Stimmen von den Grünen zurückholen will, reichen keine Sonntagsreden. Dann muss die Union die Schöpfungsbewahrung für sich entdecken und das auch konkret machen. Das hat ja auch damit zu tun, dass wir eines Tages Rechenschaft gegenüber unseren Kindern abgeben müssen, wie wir gehaushaltet haben mit diesem Planeten. Da wundere ich mich schon, dass die Parteien mit dem „C" im Namen praktisch so gar nichts mit Schöpfungsbewahrung und Generationengerechtigkeit am Hut haben.
Die nächste große Wahl ist die Europawahl. Teilen Sie das große Wort von einer „Schicksalswahl"?
Wichtig ist, dass alle diese Wahl genauso ernst nehmen wie eine Bundestagswahl und mit ihrer Stimme keine Experimente machen. Das Europaparlament ist eines der meistunterschätzten Parlamente der Welt. Europa hat uns Frieden und Wohlstand gebracht. Letzteres trifft besonders für Deutschland zu, denn wir verkaufen unsere Produkte in die ganze Welt, vor allem an unsere europäischen Nachbarn. Wenn wir jetzt sehen, wie überall Populisten die Macht übernehmen und dabei viel Chaos anrichten – nehmen Sie Italien, wo die Regierung das Land ins Unglück stürzt, nehmen Sie den Brexit, wo die Befürworter das Land an den Rand des Chaos gebracht haben und sich jetzt vom Acker machen –, zeigt: Populisten können kein einziges Problem lösen, sie sind eine Katastrophe für ihre Länder. Umso wichtiger ist, dass die demokratischen Kräfte gestärkt werden, diejenigen, die verstanden haben, dass ein stabiles und demokratisches Europa unsere Zukunft ist.
Sie haben vor der Islamkonferenz die „Initiative säkularer Islam" ins Leben gerufen. Was verbirgt sich dahinter?
Der Islam und die Muslime gehören zu Deutschland. Das gilt aber leider nur bedingt für die Islamverbände, denn sie sind oft abhängig von den Herkunftsländern. Das müssen sie ändern. Sie müssen sich zum Vertreter der in Deutschland lebenden Muslime wandeln und sich ohne Hintertür zu unserem großartigen Grundgesetz bekennen. Dann sind sie auch Gesprächspartner, wenn es zum Beispiel um muslimischen Religionsunterricht geht. Ich verhandele nicht mit Papageien, die nachplappern, was Ankara, Teheran oder Abu Dhabi vorgeben. Wenn ich mit Erdogan reden wollte, dann rede ich mit Erdogan, da brauche ich weder Ditib, noch Milli Görüs noch sonst jemanden.