Warum früher manches eben doch besser war
Es gibt ja Menschen, für die früher alles besser war. Und ich befürchte, langsam gehöre auch ich dazu. Gut, ich bin noch weit davon entfernt, mir ein Kissen auf die Fensterbank zu legen, auf dem ich meine Ellbogen abstütze, während ich, mit meinem Gehstock drohend, Jugendliche beschimpfe. Doch auch ich wünsche mir angesichts mancher Entwicklungen „die guten alten Zeiten" zurück.
Ich erinnere mich: In der Schule hatten wir ein Problem: Wir waren nicht informiert. Aktuelle Themen flogen scheinbar an uns vorbei. Wir waren mehr damit beschäftigt, auf welche Party wir am Wochenende eingeladen sind oder welche Band wann ein neues Album rausbringt. Fragen der Lehrer, wie man einen literarischen Text auf die aktuelle gesellschaftliche Situation übertragen könnte, beantworteten wir häufig mit einem Schulterzucken.
Was war das doch für eine verrückte Zeit: Wenn man keine Zeitung las und sich keine TV-Nachrichten anschaute, war man unfassbar uninformiert. Himmlische Ruhe. Nichts. Natürlich: Vom Idealbild des mündigen Bürgers waren wir deshalb weit entfernt. Ich vermute aber, diese Uninformiertheit war eher alters- und weniger medienbedingt.
Heute blinkt und vibriert es aus allen Ecken. Wir werden mit Daten zugeballert, dass die Ohren rauschen. Informierter sind wir nicht. Der überwiegende Teil der Daten, die über uns hereinbrechen, ist sowieso unwesentlich. Unwesentlich heißt, frei nach Winfried d’Avis, dass wir nichts über das Wesen der Sache erfahren, über die wir reden. Dass wir keine Konsequenzen für unser Leben daraus ziehen können. Setzt man bei der Informationsqualität diese Maßstäbe an, merken wir, dass 99 Prozent all dessen, was wir täglich konsumieren, aussortiert werden könnte. Vielleicht auch dieser Text. Es hängt davon ab. Wir leben nicht in einer Informations-, sondern in einer Meinungsgesellschaft.
Bei genauerer Überlegung ist es nämlich gar nicht die „Informationsüberflutung", der ich mich gerne entziehen möchte. Das bekomme ich recht gut hin. Meine Selbstdiagnose lautet „Meinungsmüdigkeit". Ja, ich bin meinungsmüde. Nicht nur, dass heute jeder zu allem eine Meinung hat, nein, er spürt diesen unbändigen Zwang, diese Meinung auch zu äußern. Unterdrücken nicht möglich. Es bricht aus ihm heraus. Jedes Reizwort triggert eine Reaktion. „Flüchtlinge", „Ehe für alle", „#metoo", „Feminismus", „Monsanto", „Nestlé", die Illuminaten, „50 Shades of Grey" oder das neueste Instagram-Foto von Helene Fischer in einem gewagten Outfit. Wenn jeder, der seine Meinung in die Kommentarspalten des Internets kotzt, tatsächlich von sich und seiner Meinung überzeugt wäre, könnte er sie für sich behalten und wüsste seine Energie anders einzusetzen, als fruchtlose Kleinkriege mit Andersdenkenden zu führen.
Ich weiß, das klingt arg kulturpessimistisch, aber die Zeiten echter Diskussionen sind (vorerst) vorbei. Das gute alte System „These-Antithese-Synthese" hat ausgedient. Es gibt nur noch „die" oder „wir". Wir verkriechen uns in unseren Filterblasen, weil wir übersättigt sind. Und dann wird’s paradox: Wir bemängeln die Austauschbarkeit von Politikern, sehnen uns (angeblich!) nach „echten Typen", kommen aber nicht damit klar, wenn jemand anders denkt als wir. Getreu dem Motto: Bitte echt sein, aber nur, wenn dein Echt meinem Echt entspricht. Lachhaft!
In dieser postfaktischen Ära bin ich der Meinungen überdrüssig. Wir behaupten A. Und wenn man uns darauf hinweist, das A nicht stimmen kann, leugnen wir, A gesagt zu haben und weisen auf Z hin, was mit A überhaupt nichts zu tun hat, um abzulenken. Wir sind nicht an Klärungen, an Austausch interessiert, sondern daran, unsere Meinung durchzusetzen.
Nur weil früher nicht alles besser war, muss ja nicht bedeuten, dass nicht vielleicht manches besser war. Und auch wenn ich gerne eine Lösung für dieses Dilemma hätte, mache ich nun abschließend das einzig Konsequente: Ich enthalte mich einer Meinung.