Gut sieben Jahre vor den Winterspielen 2026 muss das Internationale Olympische Komitee eine Bruchlandung fürchten: Ein Bewerber nach dem anderen musste in den vergangenen Monaten abwinken, weil die Bevölkerung dem kostspieligen Spektakel die kalte Schulter zeigt.
Thomas Bach begann das neue Jahr sicherlich mit bestenfalls gemischten Gefühlen. Der Boss des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) muss für 2019 die womöglich größte Blamage für den Ringe-Orden in der mehr als 100-jährigen Geschichte der weltweit mächtigsten Sportorganisation befürchten. Denn nach dem Stand der Dinge könnten dem IOC bis zur geplanten Vergabe der Olympischen Winterspiele 2026 im kommenden Juni in Lausanne sämtliche Bewerberstädte abhandengekommen sein. Das IOC würde damit erst mal ohne Gastgeber für sein Milliarden-Spektakel dastehen.
Tatsächlich mutieren die übernächsten Winterspiele mehr und mehr zu einem Ladenhüter. So konnte die kommende Winter-Olympiade im Jahr 2022, nicht zuletzt aus Mangel an tauglichen Bewerbern, gerade noch mit Mühe und Not im Wintersport-Neuland Peking untergebracht werden. Doch die IOC-Perspektiven für 2026 sind in den vergangenen Monaten sogar noch düsterer geworden.
Gleich reihenweise brachen Bach prestigeträchtige Interessenten mit akzeptabler Wintersport-Affinität weg. Ob der frühere Gastgeber Sapporo (Japan), das österreichische Graz (mit Schladming), die Schweizer Stadt Sion oder, wie im vergangenen Herbst, auch noch das ebenfalls schon winterspiele-erfahrene Calgary (Kanada) – überall winkten die Initiatoren nach anfänglich großer Begeisterung und Euphorie ab. Überall waren auch immer mangelnde Unterstützung hauptsächlich der Bevölkerung oder inzwischen der sonst durchaus dem Rampenlicht wohlgesonnenen Politik der Grund für die Ausstiege. Den türkischen Bewerber Erzurum strich das IOC selbst. Insgesamt holte sich das IOC in den vergangenen fünf Jahren bei Befragungen zu Olympia-Kandidaturen mehr als ein Dutzend Abfuhren durch politischen oder öffentlichen Widerstand ab.
In den vergangenen fünf Jahren mehr als ein Dutzend Abfuhren
Dem altgedienten IOC-Fahrensmann Gian Franco Kasper (Schweiz) schwante nach dem negativen Bürgerreferendum in Calgary, wo sich über 56 Prozent der Einwohner gegen die neuerliche Ausrichter-Rolle für Winter-Olympia ausgesprochen hatten, denn auch nur wenig Gutes. „Ich habe Angst vor jedem neuen Referendum. Ich hoffe, dass wir am Ende noch einen Kandidaten haben. Die derzeitige Situation ist nicht die beste für die Reputation der Winterspiele", unkte der einflussreichste Wintersport-Funktionär mit Ehrenmitgliedschaft im IOC schon ketzerisch.
Kaspers Fatalismus ist nicht unbegründet. Nach Calgarys Ausstieg sind derzeit zwar immer noch Schwedens Hauptstadt Stockholm und Mailand mit dem Wintersport-Eldorado Cortina d’Ampezzo in der Verlosung, doch beide Bewerber sind ebenfalls Wackelkandidaten. Der Bewerbung der beiden italienischen Städte steht ein striktes „Nein" der Regierung zu einer finanziellen Beteiligung an dem Milliarden-Projekt entgegen. In Stockholm hat sich schon der Stadtrat gegen eine Unterstützung der Kandidatur mit öffentlichen Mitteln ausgesprochen.
Das IOC selbst reagiert auf Nackenschläge wie in Calgary zunehmend trotzig und wirft den Bürgern Ignoranz vor. Es sei, lautete die Reaktion auf das Votum der Kanadier, „enttäuschend, dass die sportlichen, sozialen und langfristigen Vorzüge von Olympia die Wähler nicht überzeugt haben". Bach lässt in der Sache auch ein zweifelhaftes Demokratieverständnis erkennen. „Wir sind auch betroffen von Veränderungen in der Politik: Jeder glaubt, dass ein Olympia-Kandidat auch ein Referendum vorlegen muss", sagte der ehemalige Fecht-Olympiasieger schon vor der Abstimmung in Calgary und sprach den Bürgern jegliche Kompetenz bei der Beurteilung der Probleme ab: „Sind komplexe Themen, die sieben Jahre in der Zukunft liegen, ein echtes Thema für ein Referendum?"
Die quer über den Globus bestehende Ablehnung ist allerdings ein hausgemachtes Problem des IOC. Ihr weidlich ausgelebter Gigantismus der vergangenen Jahre fällt der Organisation zusammen mit ihrem völlig ramponierten Image auf die Füße. Wo für die Sportler seit jeher „höher, schneller, weiter" gilt, war das IOC zuletzt augenscheinlich immer nach der Devise „schöner, größer, teurer" verfahren. Die nach negativen Bürgerentscheiden in der Vergangenheit – wie in München oder auch in Hamburg für die Sommerspiele 2024 – aufgelegte „Agenda 2020", mit der Bach neues Vertrauen gewinnen wollte, überzeugt denn auch in keinster Weise.
Wie auch? Nach den monströsen Spielen 2014 in der russischen Schwarzmeer-Stadt Sotschi (angeblich mit Kosten von über 50 Milliarden Euro) und den fragwürdigen Wettbewerben in der Wintersport-Diaspora Südkorea (Pyeongchang) sagt Kasper für Peking 2022 erneut Ausgabenrekorde voraus. „Die Winterspiele 2022 werden die teuersten, die wir je gesehen haben", sagte Kasper im vergangenen Herbst vor weiteren Experten. Er habe zwar gehofft, „vom Geldausgeben wegkommen zu können, aber China will alles immer größer und besser machen. Die Spiele dürfen aber nicht immer größer und teurer werden".
Bach wäre aber sicherlich nicht Bach, würde der gewiefte Jurist nicht schon längst im Hintergrund entgegen eigener Beteuerungen an einem Plan B arbeiten. Fachleute glauben jedenfalls, dass schon Kontakt zu Salt Lake City, dem Gastgeber von 2010, aufgenommen worden sei, und außerdem Erzurum in der Türkei doch noch eine zweite Chance bekommen könnte. Darüber hinaus erwägt Argentinien trotz Sommers zur Zeit der angedachten Winterspiele eine nachträgliche Bewerbung mit seiner Hauptstadt Buenos Aires und dem 3.000 Kilometer entfernten Ushuaia auf Feuerland. Als größter Trumpf für 2026 dürfte sich womöglich Almaty erweisen. Die kasachische Hauptstadt war vor drei Jahren im Rennen um den Zuschlag für 2022 knapp an Peking gescheitert.
Bach räumt Probleme mit den Winterspielen ein
Doch außer in Salt Lake City hätte das IOC bei allen in Betracht kommenden Ersatzkandidaten mit seinen inzwischen altbekannten Problemen zu kämpfen. In Argentinien müssten für Winterspiele enorme Kosten aufgebracht werden. Außerdem müsste wieder einmal Abschied von der grundsätzlichen Idee einer Zusammenkunft der Jugend der Welt am Schauplatz der Spiele genommen werden. In der Türkei und in Kasachstan würden wieder einmal Länder mit totalitären Regierungssystemen und Herrschern in die prestigeträchtige Rolle des Olympia-Gastgebers schlüpfen.
Inzwischen räumt Bach zumindest Probleme mit den Winterspielen ein. Neben dem Klimawandel nannte der Tauberbischofsheimer Schwierigkeiten mit den logistischen Herausforderungen als Grund: „Einen Swimmingpool kann man überall bauen, eine Abfahrtsstrecke ist schwieriger."
Mit solchen und ähnlichen Aussagen vollziehen Bach und das IOC nach Ansicht des Hamburger Sportökonoms Wolfgang Maennig allmählich einen wohl beabsichtigten Rollenwechsel. „Das IOC hat das Problem verstanden und wird immer mehr selbst zum Berater, es wird vermehrt von sich aus auf Bewerber zugehen", sagte Maennig. Nächste Schritte würden folgen „und angesichts der Situation auch folgen müssen", sagte Maennig und nannte die oft ausufernden Kosten für olympische Infrastruktur-Projekte als Hauptproblem. Zudem sagt Maennig angesichts der wachsenden Nöte des IOC bei der Vermittlung seines milliardenschweren Geschäftsmodells einen Paradigmenwechsel voraus. „Das IOC fängt an, darüber nachzudenken, ob man nicht das Tabu bricht und sich auch an Infrastrukturkosten beteiligt. Das wird so kommen."
In der Tat hat sich das IOC, das in der Vergangenheit nur Gewinne abgegriffen und die Übernahme von Kosten verweigert hatte, für 2026 schon zu einer Unterstützung des Gastgebers mit 925 Millionen Dollar bereiterklärt. Nun muss nur noch ein Bewerber zugreifen wollen.