Der globale Klimawandel gefährdet ihre Existenz, Dürren nehmen zu, Tiere sterben, Lebensgrundlagen werden zerstört. Deshalb ziehen immer mehr Nomaden in der Mongolei aus der Steppe notgedrungen in die Städte, viele mittlerweile illegal. Viele fristen ihr Dasein in Slums.
Bevor er sich auf den Trip in sein verflossenes Leben begeben kann, muss er noch 24 Stunden Dienst schieben. Wachmann Chinzorig, Sohn des Budsuren, liegt auf der Pritsche in seiner Kammer. Der krisselige Fernseher an der Wand zeigt ein Musikvideo: Pferde galoppieren durch die weite mongolische Steppe, ein Adler kreist am wolkenlos blauen Himmel und landet auf dem Arm eines Nomaden mit Fellmütze. Lieder der Pferdekopfgeige, die nach Sehnsucht klingen. Chinzorig zieht eine Zigarette aus der Schachtel. „Die Steppe ist mein Zuhause", sagt er und lächelt müde. „Aber zurück kann ich nur noch für ein paar Tage im Jahr."
Chinzorig bewacht eine kleine, heruntergekommene Krankenstation am Rande der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator. Auch diesmal wird nichts passieren, weil nie etwas passiert. „Die Polizei liegt gleich um die Ecke", sagt er. Chinzorig tritt hinaus in die Dunkelheit und steckt sich die Zigarette in den Mund. Ringsum Wohnblocks aus der Sowjetzeit. In einem Basketballkäfig werfen Jugendliche scheppernde Körbe. Die Feuerzeugflamme erleuchtet seine weichen, kindlichen Gesichtszüge. Er ist 37 Jahre alt. Vor 17 Jahren kam er mit Eltern und Geschwistern in die Stadt. Der weiße Tod hatte ihr Vieh dahingerafft.
Das mongolische Nomadenvolk lebt seit jeher in einem Land klimatischer Extreme, 40 Grad im Sommer und minus vierzig Grad im Winter sind normal. Sie ernähren sich von ihren Tieren, verkaufen Milchprodukte, Fleisch und Wolle. Doch der globale Klimawandel gefährdet ihre Tradition: Die Erderwärmung in der Mongolei ist doppelt so hoch wie im globalen Durchschnitt, Dürren nehmen zu, 90 Prozent des überlebenswichtigen Weidelandes drohen langfristig zu verwüsten. Und wenn Schafe, Ziegen und Yaks im Sommer nicht genug zu fressen finden, überleben sie die kommende Kälte nicht. Für die Nomaden ist das der Ruin.
Chinzorig verdient 250 Euro im Monat, seine Eltern bekommen eine kleine Rente. Doch sein Vater hat Magenkrebs und die mongolische Krankenversicherung deckt wenig mehr als einen Schnupfen ab. Seit sie in Ulan-Bator leben, half Chinzorig auf dem Bau, schleppte Waren am Güterbahnhof und fuhr Taxi für ein bisschen Kleingeld, ohne Lizenz. Zwischendurch musste er vier Jahre lang in einer Möbelfabrik in Korea arbeiten und sah seine Familie nur für einen Monat pro Jahr. „Alles, was ich als Nomade auf dem Land gelernt habe, ist in der Stadt nutzlos", sagt er. Chinzorig ist wieder auf der Pritsche vor dem Fernseher angekommen.
„Früher war ich ein wohlhabender Mann"
Die Slums in der Peripherie Ulan-Bators, wo die Stadt in die Steppe ausfasert, fangen jene auf, die das Landleben aufgegeben haben. Vor 30 Jahren lebten noch 80 Prozent der Mongolen als Nomaden. Heute ist es noch ein Viertel. Die Regierung hat den unkontrollierten Zuzug längst verboten, wer jetzt noch kommt ist illegal. Doch die Leute schlagen weiter ihre Jurten auf, die traditionellen weißen Rundzelte, zimmern Hütten, siedeln auch neben Müllkippen, Friedhöfen und gigantischen, brummenden Strommasten. Mehr als die Hälfte der 1,5 Millionen Einwohner Ulan-Bators leben in den Jurtenvierteln. Wer hier gestrandet ist, versucht sich mit einfachen Jobs über Wasser zu halten – oder gibt auf und ersäuft sich im Alkohol.
Die Politik bekommt die Landflucht trotz diverser internationaler Hilfsprogramme nicht in den Griff. Die Mongolei ist eine junge Demokratie mit chronisch instabiler Führung – seit der neuen demokratischen Verfassung von 1992 gab es 15 Regierungswechsel. Korruption ist ein Dauerthema, beide Präsidentschaftskandidaten der Wahl von 2017 waren in Skandale verwickelt. Der heutige Prädident Chaltmaagiin Battulga hatte gemäß seines Mottos „Die Mongolei zuerst" versprochen, dass alle Mongolen künftig stärker von den Bodenschätzen des Landes profitieren sollten. Doch in den Slums sind all das nur Worte, die nichts zählen. In den neuen, illegalen Siedlungen ist es am schlimmsten. Hier leben sie unregistriert, ohne Gesundheits-, Strom- und Wasserversorgung.
Chinzorig entkam dem Moloch immer einmal im Jahr. Mit seinen Eltern, seiner Frau und den Kindern war er in den Sommerferien stets zu Verwandten in seine Heimatregion Dsawchan gereist, in den Nordwesten des Landes. Für einige Tage konnten sie dort saubere Luft atmen und mit ihren Kindern in die Steppe hinaus reiten. Doch Chinzorigs Vater ist zu krank für die große Reise und die Frauen müssen ihn zu Hause pflegen. Chinzorig soll dieses Mal allein fahren.
Feierabend im Morgengrauen, mit dem ersten Kläffen der Hunde. Chinzorig geht auf den staubigen Wegen seines Viertels nach Hause, entlang zerfallener Bretterzäune, Mauern, und rostiger Tore. Die ehemaligen Nomaden haben die Weite gegen kleine Parzellen getauscht. In den Jurten heizen Frauen die Kohleöfen an und setzen Milchtee auf, den die Familien den Tag über trinken. Im Winter legt sich dichter Kohlerauch aus den Ofenrohren der Slums über die ganze Stadt und macht sie zu einem der versmogtesten Orte der Welt. Von einer Anhöhe in der Nähe seiner Parzelle kann Chinzorig über den Flickenteppich aus weißen Jurten und bunt gestrichenen Hütten blicken, bis zur funkelnden Skyline im Tal.
Seine Mutter Sarantuya, eine kräftige Frau mit kurzen grauen Haaren, schleudert eine Kelle Milchtee in Richtung Morgensonne, auf dass die Götter der Familie gewogen seien. Kinder jagen über den Hof. Ein kleiner Junge mit verfaulten Vorderzähnen zählt mit geschlossenen Augen rückwärts. Sie spielen Verstecken zwischen Reifenstapeln, Bauschutt und einer verwitterten Badewanne. „Ich werde mein ganzes Leben in diesem Viertel bleiben", sagt Chinzorig. „Aber wenn unsere Kinder sich in der Schule anstrengen, können sie einen guten Job finden und sich vielleicht eines Tages eine Wohnung leisten. Dann hätte sich alles gelohnt." Er tritt durch die niedrige Holztür der Jurte, tief gebeugt mit einem weiten Schritt. Gegen den Türrahmen zu stoßen, soll Unglück bringen.
Die Jurte, mit der sie schon in der Steppe lebten, ist der Mittelpunkt der Familie. Chinzorig lebt hier mit seinen Eltern, seiner Frau Munkhjargal und den sechs Kindern. Auch seine vier Schwestern bringen ihre Kinder in den Sommerferien morgens vorbei, damit sie zur Arbeit gehen können. Der Fernseher zeigt tonlos eine Gameshow. Mutter Sarantuya sitzt auf einem roten Drehstuhl, von dem aus sie alles Wichtige erreicht, ohne aufzustehen: Kohle, Ofen, Wassertonne, Schüsseln, Mehl. Vor ihr steht ein elektrischer Wok, in dem sie kocht und anschließend auch abwäscht. Neben dem Altarschränkchen, mit Blick auf Bilder buddhistischer Lamas, liegt Vater Budsuren auf seinem Bett und raucht dünne Zigaretten. Der Magenkrebs hat ihn ausgezehrt. Er nimmt nur noch Brühe zu sich.
Der Alte wartet auf eine Bluttransfusion, doch das Präparat ist knapp. Wer es haben möchte, braucht gute Beziehungen oder viel Geld. „Früher war ich ein wohlhabender Mann", sagt Budsuren mit weicher Stimme. Er hat sich im Bett aufgerichtet, seine Haut hängt schlaff vom Oberkörper. „Die Tiere waren mein Vermögen. Alles drehte sich um sie."
Die Familie hatte 40 Yaks, zehn Pferde und Hunderte Schafe und Ziegen. Nach dem Zerfall der Sowjetunion gingen die Herden in Privatbesitz über und der Staat verteilte Startkapital. Die Marktpreise für Fleisch, Milch und Wolle waren hoch. Weil sich das Nomadenleben lohnte, brachen viele junge Leute die Schule ab. Budsurens Sohn Chinzorig verließ seine Klasse nach vier Jahren. „Ich war glücklich mit den Tieren", sagt Chinzorig, mit einer Schale Milchtee in der Hand. „Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als Nomade auf dem Land zu werden."
„Die ganze Mongolei sehnt sich nach Regen"
Nach einem besonders dürren Sommer im Jahr 1999 kam der Winter, der ihr Leben veränderte. Minus 55 Grad. Die Mongolen haben ein Wort für das Kälteextrem: Dzud – der weiße Tod. Die Tiere hatten sich während der Dürre nicht genug Speck anfressen können. Als Familienoberhaupt Budsuren versuchte, mit ihnen umzuziehen und einen weniger kalten Ort zu erreichen, blieb ein Tier nach dem anderen im Schneesturm liegen. „Ein großer Held kann durch eine kleine Kugel sterben", sagt Budsuren. „Und ein reicher Nomade kann in einer kalten Nacht zum armen Mann werden." Es folgten zwei weitere Dzud-Jahre. Ein Drittel des mongolischen Viehbestands wurde ausgelöscht.
Etwa 800 Kilometer liegen zwischen Chinzorig und seiner alten Heimat. Früh am nächsten Morgen macht er sich mit einem geliehenen Geländejeep auf den Weg. Im Gepäck hat er Kleidung und Medikamente für die Familie seines Cousins. Er fährt auf einer der wenigen befestigten Landstraßen Richtung Westen, lotgerade durch die menschenleere Steppe. Die Mongolei ist viermal so groß wie Deutschland, hat aber nur rund drei Millionen Einwohner. Vereinzelt stehen Jurten, manchmal blockiert eine Ziegenherde den Weg. Das Gras kräuselt sich hellbraun auf dem trockenen Boden. „Um diese Jahreszeit sollte es schon etwa 15 Zentimeter hoch und saftig grün sein", sagt Chinzorig. Doch stattdessen herrscht Dürre. „Die ganze Mongolei sehnt sich jetzt nach Regen."
Nach 13 Stunden Fahrt verlässt Chinzorig den Asphalt hinter einem kleinen Hüttendorf. Eine bucklige Piste führt ihn in der Dämmerung bis in ein weites Tal. Am Horizont ist die Silhouette von Bergen zu erkennen. In der Steppe stehen Kreisformationen grob behauener Steine, die Gräber der Ahnen. Schafe und Ziegen weiden versprengt, der Geruch von verbranntem Dung weht durch die offenen Autofenster herein und aus der Ferne hört man das tiefe Grunzen einer Yakherde. Am Fluss stehen drei Jurten, rosa im Abendlicht. Chinzorig fährt langsam auf sie zu.
Der Cousin wird bis zum nächsten Tag unterwegs sein, ein Bankgeschäft erledigen. Seine Frau Munja verteilt in der Jurte Schalen mit Milchtee und geflochtenes Gebäck. „Wie ist Euer Sommer?", fragt Chinzorig, den Arm um seinen neunjährigen Lieblingsneffen gelegt. Es ist eine Begrüßungsformel, übers Wetter zu reden ist in der Mongolei keine Banalität. „Sehr schlecht", sagt Munja. „Die Tiere werden mager. Die Yaks können wir nur einmal am Tag melken, Ziegen und Schafe gar nicht." Ihr Vater und ihr Bruder kommen in langen Mänteln von der Weide und begrüßen Chinzorig mit Handschlag. Sie leben mit ihren Familien in den Jurten nebenan. Chinzorigs Haut ist glatt und hell wie ein Pfirsich. Die Haut der beiden Männer dunkel und rau, geplatzte Äderchen ziehen sich über ihre Wangen. Sie verbringen die Tage bei den Tieren, in Wüstenhitze und Eiseskälte. Der Älteste reicht eine Schnupftabakdose herum.
Bald wird es Zeit, die Tiere für die Nacht in ihre Gatter zu sperren. Der alte Mann treibt von einem Pferd aus Ziegen und Schafe zusammen. Sein 13-jähriger Enkel hilft ihm mit dem Motorrad. Es folgt eine tausendfach eingeübte Choreografie, in der jeder seine Rolle kennt. Chinzorig fügt sich wortlos ein. Um 22 Uhr geht der Arbeitstag der Nomaden zu Ende. Die Familie versammelt sich in der Jurte vor dem solarbetriebenen Fernseher.
Am nächsten Tag muss eine Ziege geschlachtet werden. Weil sein Cousin noch immer nicht da ist, steht Chinzorig in der Pflicht. Chinzorigs Cousin Tsolmongerel kommt abends, als die Eingeweide der Ziege in einem großen Topf auf dem Ofen köcheln. Er hat eine Flasche Wodka dabei und gute Nachrichten: die Bank hat ihm drei Millionen mongolische Tugrik geliehen, umgerechnet rund 3.000 Euro. Damit will er im nächstgelegenen Dorf einen Reifenhandel eröffnen. „Auch wir wollten früher in die Stadt ziehen", sagt Tsolmongerel. „Ich bin mit meinem jüngsten Sohn damals vorgegangen und habe bei Verwandten gelebt." Er schneidet den Darm durch, in dem das gekochte Blut schwarz und fest geworden ist. „Ein halbes Jahr habe ich versucht Arbeit zu finden. Dann habe ich aufgegeben und bin zurückgekehrt." Der Reifenhandel sei für ihn ein Mittelweg. „Wir bleiben Nomaden – aber werden ein Stück vom Wetter unabhängig."
Die Cousins haben nur diese Nacht zusammen. Dann muss sich Chinzorig wieder auf den Weg machen, aus der Steppe auf die Straße, 800 Kilometer, zur nächsten 24-Stunden-Schicht in Ulan-Bator. „Ich will mich nicht beklagen", sagt Chinzorig. „So hat Gott mein Schicksal gezeichnet und so bin ich zufrieden."