Um das neue Jahr am 7. März einzuläuten, haut ganz Bali kräftig auf die Pauke. An Nyepi, dem „Tag der Stille", ruht die Insel. Straßen und Strände sind leer, selbst der Flughafen schließt für 24 Stunden.
Morgen, am ersten Tag des neuen Jahres, müssen sie Ruhe geben, so wie alle auf der Insel. Doch am Abend vorher geben die Musiker der Gamelanorchester noch einmal Vollgas. Holz-Xylofone klappern im hektischen Rhythmus, Bambusflöten singen. Zwei Dutzend Teenager und Männer, alle in Wickelröcken und gebatikten Kopftüchern, ziehen schwitzend durch die Straßen. Dann legt das Ensemble noch einen Zahn zu. Jetzt hauen sie also auch voller Inbrunst auf die Trommeln und Glockenspiele, hämmern auf die Klangplatten, klopfen auf die Gongs, schlagen die Becken. Wenn die Gruppe danach erschöpft pausiert, legt sofort die nächste los. Es ist, Balinesen mögen diesen Ausdruck verzeihen, ein Höllenlärm. Sind das tatsächlich traditionelle Stücke? Gibt es wirklich Solisten im Orchester, die mit ihren Blasinstrumenten über der rasenden Kernmelodie improvisieren? Oder wollen die Leute vielleicht einfach nur sehr, sehr laut sein? Für unvorbereitete Touristenohren klingt das alles nämlich leider, als fielen pausenlos Pfannen und Töpfe krachend vom Himmel, und bei den rasenden Tutti sogar das komplette Geschirr einer Großküche. Wer nun überlegt, einen Reisemangel zu reklamieren, weil man in dieser Nacht selbst mit Ohrstöpseln kein Auge zubekommt, sollte an sein Karma denken und den Einheimischen viel Verständnis entgegenbringen. Denn nur mit ohrenbetäubender Musik können die Balinesen jenen finsteren Dämonen, die ihre schöne Insel heimsuchen, den Marsch blasen.
Affengebisse und Schlangenzungen
Gestalten, die sonst im Verborgenen leben, werden durch die Klänge aufgeweckt und versammeln sich an diesem Abend überall auf Bali. Sie erobern die Dörfer – etwa an der Küste oder in den Bergen – vor allem aber das Städtchen Ubud, das auch als kulturelles Herz der Insel gilt. Hier tanzen Riesenfiguren aus Pappmaschee zum Getrommel der Gamelanorchester durch die Straßen. Die monumentalen Puppen – die Balinesen nennen sie Ogoh-Ogoh – haben spitze Krallen und Teufelshörner, Affengebisse und Schlangenzungen. Der mythische Vogel Garuda breitet seine Schwingen aus, hinter ihm kämpfen gute Geister gegen Verwünschungen böser Zauberer. Tödliche Waffen und gigantische Brüste sind im Spiel, und wenn es dunkel wird, dann blinken in den schrecklichen Gesichtern funkelnde Augen wie glühende Kohlen. Viele Stunden dürfen sie sich austoben, die ganze Nacht lang gefeiert von einer riesigen Menschenmenge, und dann gehen sie im Morgengrauen in Flammen auf. Um 6 Uhr in der Früh ist allerdings Zapfenstreich, mit eiserner Konsequenz: Nyepi ist der „Tag der Stille". Dann macht ganz Bali Pause.
„Die Götter ändern sich nicht. Und solange sie noch in Tausenden Tempeln thronen, in jedem Fluss und Berg und Baum und Feld, solange wird auch Bali sich nicht ändern. Die Insel lebt noch nach dem alten Gesetz, das unangetastet geblieben ist." Vicki Baum hat diese Zeilen geschrieben. In ihrem Roman „Liebe und Tod auf Bali" erzählt sie zwar auch ein bisschen von Liebe und Tod, vor allem aber von den Ritualen eines balinesischen Dorfes – und davon, wie die niederländischen Kolonialherren die traditionelle Ordnung mit ihren Kanonen zerschießen.
Vicki Baum sah Bali in den 30er-Jahren durch die Augen des deutschen Malers und Musikers Walter Spies. Natürlich hat sich Bali seither dramatisch gewandelt, nicht zuletzt durch den Massentourismus: Etwa 60.000 Zimmer in Drei- bis Fünf-Sterne-Hotels sind offiziell registriert, und wie viele Einheimische ihre Zimmer und Ausländer ihre Villen vermieten, weiß niemand so genau. Pro Jahr landen etwa sechs Millionen internationale Touristen auf der Insel, dazu kommen noch fast zehn Millionen Indonesier. Die Balinesen machen Geschäfte mit den Besuchern und haben ihre Reisfelder an Investoren verkauft. Anscheinend aber noch nicht ihre Seele: Sie zelebrieren weiterhin ihre traditionellen Riten, als wollten sie der an die Ufer der Insel brandenden Moderne trotzen.
Strenge Vorschriften an Neujahr
Nyepi, das balinesische Neujahr, wird nach dem überlieferten Saka-Kalender am Tag nach dem Neumond im März gefeiert – 2019 ist es der 7. März. An diesem Feiertag müssen sich nicht nur Hindus, die 90 Prozent der Inselbevölkerung stellen, an strenge Vorschriften halten. Die Regeln gelten auch für Muslime, die aus anderen Teilen Indonesiens eingewandert sind und für weitere Besucher. „Man darf nicht reisen oder arbeiten. Laute Musik und offenes Feuer sind per Dekret des Gouverneurs ebenfalls verboten", erklärt Nyoman Wardawan vom Bali Government Tourism Office.
Zweieinhalb Millionen Autos und Mopeds verstopfen inzwischen die Straßen der Insel. Doch an Nyepi darf, außer in Notfällen, niemand aus dem Haus. Das war nicht immer so: Früher spielten Kinder am Nachmittag noch in den Gassen. Als Reaktion auf die 2002 und 2005 von Islamisten verübten Bombenanschläge wurden die Regeln aber wieder verschärft: Die Regierung hat sich auf die Fahnen geschrieben, ortsübliche Rituale wie Nyepi möglichst korrekt zu erhalten.
Für die Einhaltung der Regeln sorgen die Pecalang, in schwarz-weiße Sarongs gekleidete Religionspolizisten. Weil anscheinend niemand auf die Idee kommt, Unruhe zu stiften, sitzen sie gelangweilt am Straßenrand. Radio und Fernsehen sind abgeschaltet, die Fähren stellen ihren Betrieb ein. Selbst Balis Flughafen, wo sonst täglich Zehntausende Passagiere landen und starten, wird geschlossen.
Touristen dürfen sich am „Tag der Stille" in den Anlagen ihrer Hotels zwar frei bewegen. Wenn möglich werden aber am Abend die Zimmer abgedunkelt, damit kein Licht nach außen dringt. In den Restaurants versuchen sich viele Köche an Gerichten, für die sie das Gas nicht anschalten müssen. Weil hier keine Funken sprühen, kommen die Töpfe stattdessen auf elektrische Herdplatten. Die Strände von Kuta, Nusa Dua und Sanur sind derweil menschenleer: Sonnenbaden oder Surfen gelten als Bruch der Nyepi-Regeln. Viele Unterkünfte organisieren lieber Meditationskurse, damit Körper, Geist und Seele der Gäste zur Ruhe kommen.
„Gerade in unserer modernen, hektischen Zeit brauchen wir Nyepi: Die Pause ist dazu da, um sich auf sich selbst zu besinnen", sagt Priester Ida Padanda. Der 70-Jährige hat lange in der Armee gedient. Nun beschäftigt er sich mit alten, auf getrockneten Palmblättern notierten Erzählungen: Er ist ein Nachfahre jenes Predigers, der im 15. Jahrhundert den Hinduismus von der Nachbarinsel Java nach Bali brachte. „An Nyepi können wir reflektieren, Altes abhaken, und uns Neues vornehmen", sinniert er mit feinem Lächeln. „Das neue Jahr beginnt man dann rein und unbelastet."
Die Audienz hat Ida Bagus Swar Udiana, genannt Gusde, organisiert: Der Mann betreibt im Dorf Mas bei Ubud das „Haus der Brahmanen" und stammt aus einer hohen Kaste. Gusde hat in der Schweiz Tourismus studiert und beherbergt nun auf dem Areal des elterlichen Anwesens Besucher, die sich für die Kultur der Insel interessieren. Auf Bali haben sich Hinduismus, Buddhismus, Ahnenkult und Volksglaube vermischt. Gusde versucht, seine Religion zu erklären, was ohne Vorbildung gar nicht so einfach ist. Doch man kann sie mit ihm auch erleben: Er nimmt seine Gäste mit zu Zahnfeilungen und Totenverbrennungen, zu Hochzeiten und Tempelfesten. Irgendwie ist auf der Insel immer etwas los: Balis Geister und Götter, Dämonen und Drachen wollen nämlich tagein, tagaus wahlweise besänftigt und beschwichtigt oder gelobt und gepriesen werden.
Der König der guten Geister
Wer am „Tag der Stille" bei Gusde übernachtet, muss also wie ein Balinese 24 Stunden lang still sitzen können. Was kein Problem ist, denn sein Haus hat einen Innenhof voller Blumen und Käfige mit gurrenden Tauben. Von der Terrasse blickt man auf Reisfelder und sich wiegende Kokospalmen. Am Tag vor Nyepi aber geht es mit Gusdes Frau Putri zur Melasti-Zeremonie ans Meer. Dabei sind auch die beiden Teenagersöhne, die heute nicht in Jeans und T-Shirt unterwegs sind, sondern herausgeputzt mit Sarong, weißem Hemd, um die Hüfte geschlungener Schärpe und kunstvoll gewickeltem Kopftuch.
Wie die Familie pilgern viele Tausend Gläubige bei Sonnenaufgang an den Strand und bringen zum sonoren Klang schwerer Gongs Gott Baruna ihre Opfer dar. Kunstvolle Gestecke aus Palmwedeln und Blumen, frisch gebackene Reiskuchen, Früchte und Süßigkeiten türmen sich vor den von bunten Schirmen beschatteten Schreinen. Räucherstäbchen nebeln die gewaltige Maske Barongs ein: Diese löwenartige Gestalt ist der König der guten Geister und damit Erzfeind der Königin Rangda, die alle Dämonen unter sich hat und die Menschen mit schwarzer Magie zu verzaubern sucht.
Die Maske Barongs, unter der sich zwei Männer verbergen, tänzelt mit ihrer Entourage an Priestern über den schwarzen Vulkansand zum Meer. Die magisch geladene Figur schüttelt ihre Mähne, lässt sich von der Brandung nass spritzen und kehrt zu den Gläubigen zurück. „Heilige Objekte aus dem Tempel werden durch das Wasser gereinigt. Auch wir Menschen können uns so vor Nyepi von negativen Gedanken und schlechten Einflüssen befreien", erklärt Gusde. Als Spross aus einer der wichtigsten Brahmanenfamilien der Insel hat er das Privileg, seine Gäste zu dieser wichtigen Zeremonie bringen zu dürfen, bei der die Balinesen sonst anscheinend lieber unter sich bleiben. Andere Touristen trifft man also erst am Abend bei den Ogoh-Ogoh-Paraden in Ubud.
Die durch den Lärm der Gamelanorchester aufgeschreckten Geisterwesen liefern sich die ganze Nacht lang einen karnevalesken Kampf mit jenen Göttern, die den Menschen wohl gesonnen sind. Die bösen Dämonen sehen zwar furchterregend aus, als seien sie einer Geisterbahn entsprungen – besonders helle sind sie aber nicht. Deswegen lassen sie sich manchmal von den Balinesen täuschen. Zwar nur vorübergehend, denn Gut und Böse gehören untrennbar zusammen.
Aber immerhin: Wenn zu Nyepi in den Dörfern und den Städten Ruhe einkehrt und kein Rauch ein brennendes Feuer verrät, glauben die Dämonen angesichts der Stille, dass Bali unbewohnt ist. Und ziehen zur nächsten Insel weiter.