„Netkids"-Gründerin Beate Krafft-Schöning (53) bezeichnet sich selbst als das Urgestein der Recherche zum Thema sexueller Missbrauch von Kindern im Internet. Die Autorin zahlreicher Publikationen, die an der TV-Doku-Serie „Tatort Internet" mitgearbeitet hat, ist seit 20 Jahren undercover im Netz unterwegs.
Frau Krafft-Schöning, sind die Kinder heute in ihrem Kinderzimmer noch sicher?
Nein, definitiv nicht. Wenn sie unbeaufsichtigt vor dem Computer oder dem Smartphone sitzen, sind die Chancen groß, dass die Täter direkt zu ihnen ins Kinderzimmer kommen.
Wie kommen die Täter an die Kinder heran?
Das World Wide Web bietet den vielen kranken Seelen, die dort unterwegs sind, unerschöpfliche Möglichkeiten, sich Kindern zu nähern, sie anzusprechen, zu belästigen oder sich mit ihnen zu verabreden: über Spiele-Chats, öffentliche Foren oder Messenger-Programme wie Whatsapp oder Skype. Über Letztere kann man mit den Kindern auch telefonieren. Das heißt, man verlässt den öffentlichen Raum und kann im Zwiegespräch direkt auf die Kinder einwirken.
Erkennen die Eltern diese Gefahren?
Die meisten Eltern unterschätzen die Kommunikationsmöglichkeiten der neuen elektronischen Medien. Statt Grenzen zu setzen, erwarten sie von den Kindern eine Reife, die selbst Erwachsene nicht haben. Die Industrie, aber auch die Schule redet ihnen ein: Ohne das Internet gibt es keine Bildung mehr. Über die Gefahren werden Eltern und Kinder nicht aufgeklärt. Die fehlende Prävention gerade an den Schulen ist ein Skandal. Manche Eltern sind erschreckend naiv. Sie sagen: Kinder brauchen Vertrauen. Oder: Meine Tochter soll ruhig ihre Erfahrungen machen. Oder: Das ist die Pubertät. Diese Blauäugigkeit kann dazu führen, dass ein Kind vergewaltigt wird. Sie schreien auf, wenn es um Weichmacher in Spielzeug geht, aber halten Pädophile im Netz für Fans und finden es normal, wenn ihr Kind im Nachthemd vor der Webcam sitzt. Sie glauben, in ihrer Familie könne kein Missbrauch vorkommen, weil sie doch so gut auf ihr Kind aufpassen.
Ist das Internet denn wirklich so schlimm?
Es ist sogar noch viel schlimmer. Begibt sich ein neunjähriges Kind in einen Chatroom, ist das, als würden Sie ein Stück blutiges Fleisch ins Haifischbecken werfen. Sofort gibt es ein unheimliches Gerangel um das Kind. Wenn ich mich mit Profilbild in einem Chatroom als 13-Jährige ausgebe, sind die Personen, die mich ansprechen zu 100 Prozent Täter. Diese kreisen buchstäblich mit Schleppnetzen durch das Internet und gucken, wie weit sie gehen können. Und täglich kommt neues „Frischfleisch" herein. Dieses Frischfleisch kann ihr Kind sein!
Wie erkennt man die Haie?
Viele Pädosexuelle kommen im Unschuldsgewand daher. Manche gründen sogar Kindervereine und geben sich als Sachverständige aus. Wenn sich neue reine Seelen in Foren oder sozialen Netzwerken präsentieren, schnappen sie zu. Das Schlimme: Manche Jugendliche, die einst so angequatscht wurden, machen es inzwischen genauso.
Was sind das für Leute, die über das Internet Sex mit Kindern suchen?
Größtenteils Männer und Frauen, von denen das keiner vermuten würde, die sonst ein absolut normales Leben führen. Familienväter mit Job, Einfamilienhaus und vielleicht einem Ehrenamt. Andere haben beruflich mit Kindern zu tun als Lehrer oder Sozialarbeiter. Oftmals sind es noch nicht mal pädosexuell Orientierte, sondern Menschen, die Kinder einfach konsumieren. Die meisten, die ich getroffen habe, hatten Kindersitze im Auto.
Wie sieht denn das Anbaggern aus?
Manche präsentieren sich als väterlicher Freund, wenn sie merken, dass das Kind zu Hause Stress hat. Andere tun so, als klärten sie die Kinder auf. Sie bringen ihnen alles bei: wie blasen geht und wie Sex läuft. Als Aufklärungsvideo schicken sie einen Kinderporno. Den Kindern wird weisgemacht: Deine Freunde machen das auch, sie sprechen nur nicht darüber. Bedenklich ist die Sexualisierung der Kinder mit Begriffen wie Titten und Bumsen. Manche sind noch direkter. Sie bieten 50 Euro fürs Blasen und 200 Euro fürs Ficken. Das ist schon sehr abgefahren. Es geht zu wie auf dem Viehmarkt. Das sollten Eltern wissen, die ihre Kinder auf sozialen Netzwerken wie Facebook präsentieren.
Was sind das für Kinder, die auf solche Menschen reinfallen?
Kinder aus sozial schwachen Lebensbereichen werden gleichermaßen Opfer wie die Zahnarzttochter. Es ist nicht nur der Kick, den diese Kinder suchen, sondern oft einfach pubertäre Naivität. Je besser die Verhältnisse, desto größer die Schande, anschließend den Missbrauch einzugestehen. Ganz viele Opfer sprechen nicht darüber, was ihnen passiert ist. Schließlich haben sie häufig selbst Kontakt mit ihrem Peiniger aufgenommen und fühlen sich dafür verantwortlich. Ein Mädchen, das vergewaltigt worden war, brach erst nach über einem Jahr ihr Schweigen. Die Eltern hatten nichts gemerkt. In Kontakt mit dem Täter kam sie übrigens über einen Computerkurs in der Schule.
Seit vielen Jahren haben Sie dem sexuellen Missbrauch von Kindern im Internet den Kampf angesagt. Haben Sie sich damit viele Freunde gemacht?
Ich musste viele Anfeindungen aushalten bis hin zu Bombendrohungen. Die Kritik kam übrigens nicht nur aus der Pädo-Szene, sondern auch von der Industrie oder Betreibern von Chats. Unter dem Motto: Jetzt macht Sie uns das Geschäft kaputt. Mir wurde vorgeworfen, dass ich die Persönlichkeitsrechte der Täter verletze, obwohl die von oben bis unten gepixelt waren.
Ihr persönliches Fazit?
Ich habe sehr viel über die Abgründe der menschlichen Seele gelernt. Es ist erschreckend, mit welcher Verachtung Männer und Frauen für fünf Minuten Spaß das Leben eines Kindes aufs Spiel setzen. Wir sollten aufhören, die Täter zu schützen. Zwar ist sexuelle Anmache von Kindern verboten, faktisch wird aber niemand dafür verurteilt. Deshalb sollte beim Cyber-Grooming-Paragraph die Beweislast umgedreht werden und in Zukunft beim Täter liegen. Was die Veröffentlichung von Fotos von Kindern im Internet betrifft, sollte, wie auch in Zeitungen, die Erlaubnis der Eltern nötig sein.