Im Zeitalter moderner Navigationsgeräte droht der natürliche Orientierungssinn ins Hintertreffen zu geraten. Vor allem dann, wenn man ihn nicht ständig trainiert und fördert. Zur Zielfindung werden im Gehirn mentale Landschaften gebildet.
Im Alltag macht sich kaum jemand Gedanken über den Orientierungssinn. Er bleibt still und zurückgezogen im Verborgenen, wird erst aktiv, wenn wir uns auf die Suche nach dem richtigen Weg oder einem bestimmten Ziel begeben. Er lässt sich im Unterschied zum Sehen, Hören oder Riechen keinem bestimmten Organ zuordnen. Auch wenn er zum perfekten Funktionieren beispielsweise auf das Ohr zum Einhalten des Gleichgewichts oder das Auge zum Geradeauslaufen angewiesen ist. Er ist zudem ein Sinn, der bei manchen Menschen sehr gut und bei anderen ziemlich schlecht ausgebildet ist. Das liegt daran, dass Letztere einfach nicht hinreichend dazu in der Lage sind, ein räumliches Verständnis ihrer unmittelbaren Umgebung zu entwickeln. Das Klischee vom vortrefflichen Pfadfinder-Mann und der überforderten Navigations-Frau wurde längst als unzutreffend über den Haufen geworfen. Ob die unterschiedliche Ausprägung der Orientierungsfähigkeit etwas mit den Genen zu tun hat, sprich erblich bedingt ist, ist wissenschaftlich noch völlig ungeklärt.
Viel spricht allerdings dafür, dass man den Orientierungssinn trainieren und fördern kann. Menschen in wohlhabenden Regionen der Welt sind laut einer Studie dabei klar im Vorteil. Auf Basis der 2018 erarbeiteten Studie des University College London mit 560.000 Teilnehmern aus 57 Ländern war die Fähigkeit, sich räumlich zu orientieren, in Staaten mit hohem Pro-Kopf-Inlandsprodukt deutlich besser ausgeprägt als in wirtschaftlich schlechter dastehenden Nationen. Im Länderranking belegte Deutschland mal wieder keinen Spitzenplatz, sondern musste sich mit einem hinteren Platz des ersten Drittels begnügen. Als wesentlichen Grund für die ungleiche geografische Verteilung des Orientierungssinns führten die Wissenschaftler die häufige Reisetätigkeit der Bewohner reicher Staaten ins Feld. Dabei könne die Fähigkeit zum persönlichen Navigieren geschult werden. Nicht sonderlich überraschend war ein weiteres Studienergebnis, das auch frühere Untersuchungen schon belegt hatten: Mit steigenden Alter war eine Abnahme der Orientierungsfähigkeit zu beobachten.
Umgebung vereinfachen
Was hat es nun mit dem Orientierungssinn auf sich? Wo lässt er sich orten? Wie genau funktioniert er? Für all diese Fragen war eine Entdeckung des britisch-amerikanischen Neurowissenschaftlers John O’Keefe aus dem Jahr 1971 grundlegend. Er konnte im Hippocampus, dem für das Gedächtnis zentralen Teil des Gehirns, sogenannte Ortszellen lokalisieren, die Erinnerungen an besuchte Orte speichern und daraus im Kopf eine räumliche Karte, eine Art innere mentale Landkarte anlegen. Mehr als drei Jahrzehnte später, genau gesagt im Jahr 2005, konnte das norwegische Forscher-Ehepaar May-Brit und Edvard Moser eine zweite wichtige Komponente der Orientierung entschlüsseln. Sie nannten sie Rasterzellen, die dazu dienen, die Ortszellen in einem Raster oder Koordinatensystem abzubilden. Gemeinsam bilden Ortszellen und Rasterzellen im Gehirn eine Art von innerem, natürlichem GPS, mit dessen Hilfe der Weg zum gewünschten Ziel gefunden werden kann. Für die Erforschung des Gehirn-Navis wurden O’Keefe und das Ehepaar Moser 2014 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Wie sehr sich dieses Gehirn-Navi trainieren lässt, wurde 2008 durch die sogenannte Londoner Taxifahrerstudie des University College London eindeutig belegt. Nicht nur war bei den Taxifahrern, die sich in einem Simulationsexperiment durch die Straßen der britischen Hauptstadt fortbewegen mussten, der Hippocampus deutlich größer ausgebildet als bei den zum Vergleich untersuchten Busfahrern der Themse-Metropole, sondern ein ähnlicher Unterschied war auch im Gehirn von erfahrenen Chauffeuren und Neueinsteigern im Taxigeschäft nachweisbar. Erklärt wurde das Phänomen damit, dass sich Taxifahrer viel komplexere Wege merken müssen als Buslenker, die meist nur auf Routinestrecken unterwegs sind.
Im Unterschied zu realen Landkarten ist die mentale, innere oder kognitive Karte in unserem Gehirn keine exakte, detailgenaue Abbildung der aufgenommenen Umgebung. „Von unserem eigenen Viertel ist sie in der Regel detailliert", sagt der auf das Thema Orientierungssinn spezialisierte Bildungspsychologe Prof. Stefan Münzer von der Universität Mannheim in einem Artikel für die „Zeit", „von Stadtteilen hingegen, in denen wir uns nicht oft aufhalten, eher schemenhaft. Darüber hinaus vereinfachen wir die Umgebung: Flussläufe durch die Stadt stellen wir uns begradigt vor, schräge Winkel an Kreuzungen rechtwinklig." Laut Münzer gibt es im Wesentlichen zwei Komponenten, mit denen wir unseren mentalen Kartenplan erstellen. Zum einen das sogenannte Routinewissen und zum anderen das Überblickswissen, das auch als kognitive Karte bezeichnet wird. Beim Routinewissen merken wir uns den Weg anhand von prägnanten Gebäuden oder Landmarken, gepaart mit Abbiegeüberlegungen. Womit man allein allerdings leicht Schiffbruch erleiden kann, wenn man beispielsweise von der abgespeicherten Route wegen einer Straßensperrung abweichen muss.
In diesem Fall ist das Überblickswissen hilfreich, das jedoch nicht alle Menschen beherrschen. Denn bei dieser Methode begibt man sich gewissermaßen in die Vogelperspektive und orientiert sich an unveränderlichen Merkmalen wie Himmelsrichtung, Sonnenstand, einem weithin sichtbaren Berggipfel oder an einer Küstenlinie. Im Idealfall ergänzen sich die beiden Komponenten zur Erstellung einer mentalen Karte. Das Routinewissen ist vor allem für Menschen mit schlechtem Orientierungssinn eine wichtige Stütze, es stellt nicht so hohe Anforderungen an das Gehirn und lässt sich vokabelgleich meist schneller erlernen als das Überblickswissen. Das Routinewissen ist laut Münzer bei beiden Geschlechtern gleich gut ausgebildet. Männer haben Vorteile im Bereich Überblickswissen, weil sie besser Himmelsrichtungen und Entfernungsangaben mit abrufen können. Zu diesem Ergebnis war auch bereits eine Studie der University of Edinburgh im Jahr 2006 gekommen: Frauen merken sich eher Wegmarken, Männer dagegen speichern sowohl optische als auch räumliche Zusammenhänge ab. Münzer sagt in besagtem „Zeit"-Artikel: „Frauen und Männer bevorzugen offenbar unterschiedliche Taktiken, um sich zu orientieren. Eine generelle Überlegenheit der Männer ist zwar nicht zu erkennen, dennoch halten sie ihr Orientierungsvermögen tendenziell für besser als Frauen. Das könnte daran liegen, dass sie von ihrer guten Leistung in Richtungsschätzangaben auf andere Fähigkeiten schließen."
Verlust der Vogelperspektive?
Viel und kontrovers diskutiert wird die Frage, ob die modernen technischen Navigations-Geräte, die hierzulande inzwischen drei von vier Autofahrern nutzen, zum Verkümmern des natürlichen Gehirn-Navis beitragen können. Vor allem der mögliche Verlust der Vogelperspektive wird von manchen Experten beklagt. Stefan Münzer kann die Aufregung nicht ganz verstehen, gegenüber der „Süddeutschen Zeitung" merkte er an: „Wir haben bisher keine harten Belege dafür, dass Menschen, die früher mit Karten navigiert haben, durch das Navi wirklich etwas verlernen." Problematischer sieht er die Situation allerdings für die jüngere Generation, die erst im Navi-Zeitalter geboren wurde und niemals nichtelektronische Hilfsmittel zur Orientierung genutzt hat. Zumal er schon 2006 in einer gemeinsam mit der Universität des Saarlandes und dem Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz erarbeiteten Untersuchung nachgewiesen hatte, dass Menschen weniger über ihre räumliche Umwelt lernen, wenn sie ständig ein Navi statt einer klassischen Karte benutzen. Münzer in seinem „Zeit"-Artikel: „Nicht nur das Überblickswissen ‒ also die kognitive Karte ‒, sondern auch das Routenwissen war bei ihnen beeinträchtigt. Andere Wissenschaftler haben diese Befunde bestätigt." Münzer gibt daher den Rat, sich ruhig mal vor einer Navi-geführten Reise die Route auf einer größeren Karte anzuschauen, um sich einen weiten Überblick zu verschaffen und markante Punkte zu merken.