Als europäische Kulturhauptstadt 2019 im Rampenlicht: Matera gilt als eine der ältesten Städte der Welt. Besucher faszinieren die bis zu 10.000 Jahre alten Sassi. Die höhlenartigen Behausungen dienten einst als Notunterkünfte, heute sind sie hippe Locations.
Luigi d’Hercule will seine Sonnenbrille wieder. Der 83-Jährige klettert über das Geländer und ein paar Mauern, und steht kurz darauf vor einem Loch im Fels und hebt die runtergefallene Brille wieder auf. Er steht vor einem Zugang zu einem der Sassi, für die Matera bekannt ist. Einst standen sie für das Elend der bäuerlichen Bevölkerung, die dort unter hygienisch inakzeptablen Bedingungen ohne Strom, Heizung und fließend Wasser hauste. Luigi d’Hercule war als Kind einer dieser 15.000 Sassi-Bewohner.
Der Blick von der Aussichtsplattform an der Piazza Vittorio Veneto ist atemberaubend. Die Sassi schmiegen sich wie ein Haufen dahin geschütteter Bauklötze ins Flusstal der Gravina, erklimmen die felsigen Karstwände, in die sie gehauen sind. Gassen und Treppen verbinden sie zu etwas Ganzem. Ein architektonisches Kleinod aus der Spätantike, bis zu 10.000 Jahre alt sind die Sassi. „Sie gelten als eine der ältesten Städte der Welt", sagt Luigi. Abends, wenn das Leben erwacht, beginnen die Sassi zu leuchten, die orangenen Straßenlaternen gehen an, als hätte jemand dieses Betlehem Italiens angeknipst.
Matera in der süditalienischen Region Basilikata, neben Plowdiw in Bulgarien Europas Kulturhauptstadt für 2019, stand noch vor 70 Jahren für Unkultur. Es war zum Schandfleck Italiens geworden, „la vergogna nazionale". Auslöser war ein autobiografisch geprägter Roman des Schriftstellers und Malers Carlo Levi, der von Mussolini 1936 nach Matera verbannt wurde, dass er anderthalb Jahre nicht verlassen durfte. In „Christus kam nur bis Eboli" beschreibt als Protagonistin Levis Schwester die Verhältnisse in den Sassi: „In diesen schwarzen Löchern mit Wänden aus Erde sah ich Betten, elenden Hausrat und hingeworfene Lumpen. Auf dem Boden lagen Hunde, Schafe, Ziegen und Schweine ... Ich habe noch nie ein solches Bild des Elends erblickt." Der 1945 erschienene Roman fand Verbreitung und damit das Bild des rückständigen Süditalien, für das Matera zum Sinnbild wurde.
Bild vom rückständigen Italien
Auf unserem Spaziergang durch die Stadt sind wir in der Via san Giovanni Vecchio angekommen, von der eine kleine, gepflasterte Gasse zu einer verwitterten Holztür im Fels führt. „Hier habe ich, hier hat meine Familie gewohnt", sagt Luigi. Wie das ausgesehen haben muss, zeigt heute stellvertretend für die Verhältnisse von einst die Casa Grotta di Vico Solitario: eine folkloristisch verklärt eingerichtete Felsenwohnung. Es fehlt der Gestank von einst, die Kälte im Winter. Die Not der Menschen, die in dem Angriff der Nazis gipfelte, wird nicht fühlbar. „Da hinten im letzten Winkel habe ich mich vor den Deutschen versteckt", sagt Zeitzeuge d’Hercule. Er dreht sich dann um und zeigt in das Sassi-Meer: „Von der Felsenkirche da oben haben sie geschossen."
Levis Buch führte dazu, dass die Sassi, in denen Menschen und Tiere zusammen hausten, zu Beginn der 50er-Jahre auf Geheiß des damaligen italienischen Ministerpräsidenten De Gasperi geräumt wurden. „Es wurden Volkshäuser gebaut, Stadtviertel gegründet", sagt Luigi. 15.000 Materaner wurden an den Stadtrand umgesiedelt. Luigi, in Matera geboren, ging 1959 nach Westdeutschland, wo er bis 1965 blieb und im Straßenbau tätig war. „Ich war einer der ersten Gastarbeiter."
In die Sassi, über Jahrzehnte sich selbst überlassen, kehrte erst spät wieder Leben ein. Matera entdeckte in den 80ern das städtebauliche Juwel wieder, das der Filmindustrie schon früher als Kulisse für Bibelfilme diente. Programme zur Rettung der Sassi wurden aufgelegt mit Finanzspritzen aus Rom. 20 Jahre im größtenteils verstaatlichten Höhlenviertel Chavioso mietfrei wohnen, wenn man sich verpflichtete zu renovieren, so lautete ein Angebot, sagt Luigi. Er selbst kehrte nie zurück.
Der Reiz des Archaischen
1993 wurden die Sassi von Matera Unesco-Weltkulturerbe, seitdem steigen die Besucherzahlen an. Einfache Restaurants, feine Trattorien, Hotels, kulturelle Einrichtungen, die in die Höhlen eingezogen sind und allesamt die Einzigartigkeit der Steine (Sassi zu Deutsch) als Event vermarkten, zeigen die neue Entwicklung. Über das in Gemäuern der Felsenkirche Madonna dell’Idris untergebrachte Hotel aber schüttelt Luigi den Kopf, der an die heilige Dreifaltigkeit glaubt, die sich in den drei Kerben des Hartweizengreis-Brots Pane die Matera symbolisiert, das jede Bäckerei in der Auslage hat.
Im Kulturhauptstadt-Jahr erwartet die Provinzhauptstadt mit 60.000 Einwohnern zwischen 800.000 und einer Million Besucher. In Matera werden Straßen neu gemacht, Radwege und Fußgängerbereiche entstehen. An der Piazza della Visitazione wird der marode Busbahnhof erneuert, denn mit dem Auto sollen die Touristen bitte nicht anreisen, in die Stadt, wo die Parkplatznot schon heute ein Politikum ist. Allerdings mussten auch Bäume weichen, was die Stimme der Kritiker lauter gemacht hat, die sich ohnehin fragen, wie das verwinkelte Matera den Besucheransturm verkraften oder gar dem Anliegen der 2019-Verfechter gerecht wird, die Touristen könnten den Materanern während der vielen Veranstaltungen auf Augenhöhe begegnen. Eine Frage bleibt: Wie viel Reiz seines kargen, archaischen Reizes kann Matera bewahren, wenn sich die Kulturtouristen 2019 durch die einst verschmähte Altstadt schieben?