Es war einer der bizarrsten Kriminalfälle der amerikanischen Geschichte: Am 4. Februar 1974 wurde die Millionenerbin Patty Hearst von der linksradikalen Terrorgruppe SLA entführt. Kurz darauf schloss sie sich der Bande an und wurde selbst zur meistgesuchten Bankräuberin der Nation. Ob dies freiwillig geschah, ist bis heute unklar.
Beruf: Stadtguerilla – so gab es Patty Hearst trotzig zu Protokoll, als sie nach ihrer Festnahme von einem Beamten nach ihrer Profession gefragt wurde. Im September 1975 war sie zusammen mit einem weiteren Mitglied der linksradikalen Terrorgruppe Symbionese Liberation Army (SLA) in einem Haus in San Francisco festgenommen worden. Die Polizei fand bei den Frauen Waffen und Munition. In den anderthalb Jahren zuvor hatte sich Hearst an mehreren Banküberfällen beteiligt, bei denen auch Menschen ums Leben gekommen waren. Zudem hatte die Gruppe Sprengstoffe hergestellt, mit denen sie Angriffe auf Polizisten plante. Die SLA führte einen bewaffneten Kampf gegen die US-Regierung, einen „Dschihad" gegen den kapitalistischen Staat, wie Hearst es 2002 in der Sendung von Talkmaster Larry King formulierte.
Nach ihrer Festnahme ließ sie über ihren Anwalt eine Botschaft verbreiten: „Sagt allen, dass ich lächle, dass ich mich frei und stark fühle und dass ich meine Grüße und meine Liebe an alle Schwestern und Brüder da draußen schicke." Das klang durchaus nach ideologischer Überzeugung. Doch die Frage, inwiefern sie tatsächlich hinter dem stand, was sie tat, oder ob sie sich nicht vielmehr gegen ihren Willen an den kriminellen Aktionen der Terrorgruppe beteiligte, wie sie später vor Gericht beteuerte, ist nach wie vor Gegenstand kontroverser Diskussionen. Endgültig aufgeklärt werden konnte der wohl bizarrste Entführungsfall der amerikanischen Geschichte bis heute nicht.
Es war die Geschichte einer mehrfachen Verwandlung: von der Millionenerbin zum Entführungsopfer zur meistgesuchten Bankräuberin der Nation. Patricia Hearst ist die Enkeltochter des einflussreichen amerikanischen Medienmoguls William Randolph Hearst, der Orson Welles mit seinen Marotten einst als Vorbild für dessen „Citizen Kane" diente, und die Tochter des nicht minder wohlhabenden Verlegers Randolph Hearst. Der Hearst-Verlag, in dem unter anderem die Zeitschriften „Elle" und „Cosmopolitan" erscheinen, zählt auch heute noch zu den größten des Landes.
Mehrere Millionen Dollar erpresst
Über ihre Kindheit sagte Patty Hearst rückblickend: „Meine vier Schwestern und ich sind nicht als reiche Leute aufgewachsen. Wir waren privilegiert, sogar mehr als das – aber nicht verwöhnt." Tatsächlich benahm sie sich nicht anders als andere Jugendliche in ihrem Alter: Sie kiffte und schrieb sich an der University of California in Berkeley ein, dem Zentrum der amerikanischen Studentenbewegung. Dort bewohnte die damals 19-Jährige zusammen mit ihrem Verlobten ein Apartment nahe des Campus.
Am Abend des 4. Februar 1974 klopfte es dort an der Tür. Als ihr Verlobter öffnete, wurde er von zwei Männern und einer Frau zusammengeschlagen. Hearst wurde gefesselt und in den Kofferraum eines geklauten Wagens geworfen. Verantwortlich für die Entführung war die Symbionese Liberation Army unter der Führung von Anführer Donald DeFreeze, der sich in seinem Kampf gegen das kapitalistische System selbst gern als „Generalfeldmarschall" bezeichnete. Schon vorher hatte die SLA einen Schulbeamten ermordet und einen weiteren schwer verletzt. Mit der Entführung von Patty Hearst wollte die zahlenmäßig eher kleine Gruppe Schlagzeilen machen. Zudem hoffte man darauf, zwei inhaftierte Mitglieder der Gruppe aus dem Gefängnis zu bekommen. Von der Hearst-Familie erpresste die SLA mehrere Millionen US-Dollar, von denen die Entführer Lebensmittel kauften, deren Verteilung in den Armenvierteln von San Francisco, Oakland und Berkeley allerdings chaotisch verlief. Die Gruppe weigerte sich deshalb, Patty Hearst freizulassen.
57 Tage lang war sie nach eigenen Angaben in einer 1 x 1,7 Meter großen Besenkammer eingesperrt. Die Suche des FBI nach ihr blieb trotz größter Anstrengungen vergeblich. „Wir haben Sechs-Tage-Wochen mit Zwölf-Stunden-Schichten geschoben, das war ein riesiges Projekt", erinnerte sich ein ehemaliger Beamter. Erst Anfang April 1974, zwei Monate nach ihrer Entführung, gab es von ihr ein erstes Lebenszeichen: Per Audionachricht gab sie überraschend bekannt, dass sie sich der SLA angeschlossen habe. Ihre Eltern beschimpfte sie daraufhin als Schweine und warf ihnen vor, überhaupt nichts für ihre Freilassung zu unternehmen. Deshalb habe sie sich entschieden, zu bleiben und zu kämpfen. Hearst nahm den Kampfnamen Tania an –
nach dem Vorbild Tamara Bunkes, einer ostdeutschen Guerillakämpferin und Genossin Che Guevaras, die sich in den 60er-Jahren ebenfalls so genannt hatte.
Musterbeispiel eines sogenannten Stockholm-Syndroms
Wenige Tage später wurde Hearst von einer Überwachungskamera erfasst, als sie – im Anschlag ein halbautomatisches M1-Gewehr – zusammen mit anderen SLA-Mitgliedern die Hibernia-Bank in San Francisco überfiel und rund 10.000 US-Dollar erbeutete. Zwei Männer, die während des Überfalls die Bank betraten, wurden dabei niedergeschossen und verletzt. Es folgten weitere Banküberfälle, bei denen Hearst zum Teil auch als Fluchtfahrerin draußen im Wagen wartete. Bald kamen die Behörden der Terrorgruppe auf die Schliche. Im Mai 1974 entdeckte die Polizei in einem Haus in Los Angeles sechs SLA-Mitglieder, darunter auch Anführer Donald DeFreeze. Bei einem heftigen Schusswechsel, der sich über 70 Minuten hinzog und in dessen Verlauf das Haus schließlich in Flammen aufging, wurden alle sechs Terroristen getötet.
Knapp eineinhalb Jahre später wurde schließlich auch Patty Hearst festgenommen und angeklagt. Richter Oliver Jesse Carter verurteilte sie wegen schweren Raubes zu 35 Jahren Gefängnis, was die Höchststrafe war. Für ihn stand fest, dass sie sich der SLA aus freien Stücken angeschlossen und sämtliche Taten freiwillig begangen hatte. Dass Augenzeugen berichtet hatten, dass während des ersten Überfalls auch eine Maschinenpistole stets auf Hearst gerichtet blieb, so als ob man ihr nicht trauen würde, überzeugte ihn ebenso wenig wie die verschiedenen Anzeichen eines ernsten Traumas, die Hearst im Gefängnis zeigte – unter anderem hatte sie Alpträume und einen deutlich verminderten IQ-Wert. Carter teilte die Meinung von Justizminister William B. Saxbe, dass Hearst eine „gewöhnliche Verbrecherin" war und „keine widerstrebende Teilnehmerin" des Banküberfalls.
Hearsts Verteidiger argumentierten dagegen, sie sei unter Drogen gesetzt worden, welche ihr Urteilsvermögen beeinflusst hätten. Auch habe man sie mehrfach vergewaltigt. Sie habe vor der Wahl gestanden, sich der Gruppe anzuschließen oder stattdessen zu sterben und sich in dieser Situation für das Weiterleben entschieden. „Ich habe meine Gedanken so angepasst, dass sie mit ihren übereinstimmten", sagte Hearst.
Während des Berufungsverfahrens war später auch von einer Gehirnwäsche die Rede, was die Richter aber ebenfalls nicht überzeugte. In Teilen der amerikanischen Gesellschaft wurde die sture Haltung des Gerichts scharf kritisiert. Schauspieler John Wayne etwa kommentierte mit Verweis auf den Massensuizid von Jonestown: „Es ist doch seltsam, dass wir es als Tatsache akzeptieren, dass Jim Jones 900 Menschen so manipulieren konnte, dass sie ihm in den Tod folgen, dass wir aber gleichzeitig infrage stellen, dass eine Gruppe wie die Symbionese Liberation Army eine Teenagerin einer Gehirnwäsche unterziehen kann." Immerhin wurde die Gefängnisstrafe auf sieben Jahre reduziert. Letztlich wurde Patty Hearst nach 22 Monaten Haft von US-Präsident Jimmy Carter begnadigt. 2001 erhielt sie schließlich durch Präsident Bill Clinton die vollständige Begnadigung, ein sogenanntes „Presidential Pardon".
Heute gehen die meisten Beobachter davon aus, dass der Fall Patty Hearst das Musterbeispiel eines Stockholm-Syndroms ist: eines psychologischen Phänomens, bei dem die Opfer von Geiselnahmen mit der Zeit ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen, was dazu führen kann, dass sie mit den Tätern sympathisieren oder gar mit ihnen kooperieren. Ob es wirklich so gewesen ist, weiß wahrscheinlich nur Hearst selbst, die jedoch schon vor einigen Jahren angekündigt hat, sich nicht mehr zu dem Fall äußern zu wollen. „Jedes Mal, wenn ich das tue, werde ich wieder in den Alptraum versetzt, der, wie Sie sich vielleicht vorstellen, zutiefst schmerzhaft ist."