Kann man bei einem Improvisationskurs etwas lernen? Durchaus, vor allem über sich selbst. Contact Improvisation im Selbstversuch.
Ich schließe die Augen und lasse mich fallen. Meine Bewegungen sind nicht länger kontrolliert, vielmehr passen sie sich der sanft einsetzenden Jam-Melodie an. Die Gebärden werden weicher, die Handbewegungen fließender. Fast einer Meditation gleich gehe ich plötzlich voll und ganz in der Musik auf. Und dann ist es endlich so weit: Mein Kopf wird frei. Ich verschwende keinen Gedanken mehr daran, wie ich aussehe oder wie ich auf andere Tanzpartner wirke. Ob meine Kleider richtig sitzen, oder ich doch lieber den Bauch einziehen sollte. Das ganze Hinterfragen ist sehr, sehr weit weg. Und ich? Ich bin eins mit der Musik. Eins mit mir. Ein Gefühl der absoluten Freiheit, das ich scheinbar schon lange verloren habe, vielleicht schon in der Kindheit. Jetzt durchströmt es wieder meinen ganzen Körper und füllt mich aus. Ich habe zurückgefunden zu mir selbst.
Dabei fing alles recht banal an, mit einem Tanzkurs. Ich soll die „Contact Improvisation" testen, ein zeitgenössischer Tanzstil, bei der sich zwei oder mehrere Partner über wechselnde „Kontaktpunkte" im Raum miteinander bewegen. „Es geht um das gemeinsame Erforschen neuer Bewegungsmöglichkeiten", erzählt Tanzlehrerin Saskia Bommer. „Wir haben kein vorgefertigtes Material, also keine fest einstudierte Choreografie die wir zum Besten geben, sondern schlüpfen selbst in die Rolle der Choreografen und entwickeln unsere eigenen Bewegungen." Wertungen wie „richtig" oder „falsch" gibt es hier nicht. Die Bewegungsabfolgen müssen auch nicht einstudiert werden. Vielmehr geht es um das Ausprobieren; darum, neue Bewegungsabläufe zu finden, die idealerweise gänzlich aus dem alltäglichen Rahmen fallen. Das war im Übrigen auch die Idee des Gründers von „Contact Improvisation", des amerikanischen Tänzers und Choreografen Steve Paxton. Auf der Suche nach neuen Tanzvariationen entwickelte Paxton Anfang der 70er-Jahre in New York eine neue Tanz-Methodik zur Erforschung von Bewegungs- und Ausdrucksmöglichkeiten. Die Contact Improvisation lässt viel Spielraum: ob akrobatisch, ausgelassen oder ruhig, führen und geführt werden, rollen, springen, auf dem Boden, alles ist möglich. Zunächst nur den Profis vorbehalten, verbreitete sich die neue, avantgardistische Tanzform rasch und erreichte kurze Zeit später Europa. Saskia Bommer entdeckte ihre Leidenschaft für das experimentelle Tanzen vor rund zehn Jahren. „Offen zu sein, ohne jegliche Erwartung an das was passiert, man wird eins mit dem Partner, der Dialog überschlägt sich und fließt, diese Art der Kommunikation, des Kontaktes ist für mich so sinnvoll, spricht all meine Sinne an und macht mich zu einem glücklicheren Menschen. Das ist das was ich weitergeben möchte", erzählt sie begeistert. Seit über einem Jahr bietet die Performance-Künstlerin selbst Tanzkurse an, in der Heimstätte, in der sie die neue Tanzrichtung kennengelernt hat, in der Plattform 3, dem Zentrum für Tanz und Musik.
Hier findet auch der Kurs statt, an dem ich an diesem Samstagmorgen teilnehmen darf. Kurz vor 11 Uhr – der Tanzkurs mit anschließendem Jam dauert rund zwei Stunden – finde ich mich auf der zweiten Etage der Mainzer Straße 52 wieder. Der kleine Warteraum, von dem man den Kurssaal und die Umkleide erreichen kann, ist relativ voll. Sieben der insgesamt zehn Teilnehmer sind schon da und bereits umgezogen. Auch ich eile in den Umkleideraum und werfe mir die Sportkleider über. Eine Wasserflasche soll ich mitnehmen und ein Handtuch. Mehr braucht man nicht.
Von Choreografen entwickelt
Etwas nervös lege ich meine Tasche auf der Bank ab. Als ich gerade dabei bin meine Sporthose anzuziehen, lernen ich Raina Dean kennen. Die junge Frau streckt mir die Hand entgegen und strahlt mich an. „Du musst die Neue sein", begrüßt mich die lockige Brünette mit einem fröhlichen Grinsen. Als ob sie meine Gedanken lesen kann, spricht sie beruhigend auf mich ein. „Hab’ keine Angst, Saskia leitet den Kurs so gut, dass es sich ganz harmonisch fügt, mit dir und der Gruppe. Bei mir war das auch so." Raina selbst ist Wiederholungstäterin. Seit rund eineinhalb Jahren pendelt die junge Frau jeden Samstag eine ganze Stunde aus Kaiserlautern nach Saarbrücken, um von Saskia Bommer zu lernen. „Ich habe hier sehr viel Neues über mich erfahren", sprudelt es aus Raina heraus, während wir den Saal ansteuern. „Vieles, was ich hier gelernt habe, hatte eine positive Auswirkung auf mein alltägliches Leben." So wie beispielweise die Übung, bei der es nur um visuelle Kontaktaufnahme ging. „Vor nicht zu langer Zeit mussten wir uns als Gruppe im Raum verteilen und versuchen, zueinander eine Verbindung aufzubauen", schildert Raina eine ihrer favorisierten Übungen. Der Clou dabei: Es darf nicht gesprochen werden. Die einzigen Impulse, die man seinen Partnern geben darf, erschöpfen sich in Blicken. „Eigentlich ist das ja nichts Neues", gibt das Mädchen offen zu und doch eröffnen sich für Raina während der Übung ganz neue Welten. „Auf einmal dachte ich nur darüber nach, wie ich die Menschen anschaue." Richtet sich der Blick von oben nach unten, oder von unten nach oben. Was macht ein solcher Blick mit dem Gegenüber? Empfindet ihn der Partner als freundlich oder vielleicht doch wertend. Schaut er zurück oder lieber weg? „Aus etwas Alltäglichem wie einem Blickkontakt wurde auf einmal etwas ganz Großes", bringt es Raina auf den Punkt.
So wird es auch mir ergehen, allerdings erst in 40 Minuten. Doch zu diesem Zeitpunkt weiß ich es noch nicht. Lieber schaue ich mir die Teilnehmer an. Raina gehört mit ihren Anfang 20 zu den Jüngeren. Es gibt aber auch wesentlich ältere Teilnehmer. „Wir haben keine Altersgrenzen", erklärt mir Saskia. „Wer Lust und Zeit hat, ist bei uns herzlich willkommen." Auch was Männer und Frauen angeht, ist die Gruppe gut durchmischt. Zunächst wärmen wir uns auf. Dabei nehmen die Teilnehmer ihre Handflächen, um ihren Körper vom Kopf bis Fuß vorsichtig abzuklopfen. Das fördert nicht nur die Durchblutung, sondern gilt auch als Erstkontakt, zu sich selbst. Während die anderen Teilnehmer bei sich bleiben, fällt mir auf, wie hektisch mein Blick wird. Meine Augen wandern von einem Gesicht zum nächsten. Ob sie es witzig finden sich so abzuklopfen?, denke ich. Finde ich es witzig? Sehe ich vielleicht lächerlich aus? Was ist wenn ich mich bücke, um meine Beine abzuklopfen, soll ich dann mein T-Shirt runterziehen? Stört es die anderen?
Und plötzlich wird mir klar: Ich habe es scheinbar verlernt, mich auf mich selbst zu konzentrieren. Zwischen Telefonanrufen, Terminen und Autofahren ist diese Fähigkeit einfach verloren gegangen. Stattdessen folgt eine Fixierung auf die Anderen. Keine Frage, beim Autofahren mag es vielleicht noch nützlich sein, aber für den Rest? Für meine Seelenruhe? Leicht enttäuscht von mir selbst, folge ich Saskia und setze mich auf den Boden. Jetzt sind unsere Füße dran. Knochen für Knochen massieren wir langsam die ganze Fußsohle. Wie komplex so ein Fuß aufgebaut ist, denke ich, als ich plötzlich Stellen fühle, von denen ich vorher gar nichts geahnt habe. Klar, dass ich einen Fuß habe, wusste ich. Doch ein Körperteil so bewusst wahrzunehmen war ungewohnt.
Körper bewusst wahrnehmen
Saskia führte zu unserer ersten Tanz-Improvisation. „Stellt euch vor, ihr seid komplett aus Wachs", gibt sie die Anweisung für die nächste Übung. „Nehmt diesen Gedanken auf und versucht es in die Bewegung umzusetzen." Kaum ist das gesagt, sehe ich die Impulse in den Bewegungen meiner Tanzkollegen. Zum Teil ganz ausgestreckt sacken die Improvisations-Tänzer in sich zusammen, bis sie ganz auf dem Boden liegen. Dabei hat jeder seine eigene Geschwindigkeit. Manche versuchen noch ein paar mühselige Wachsschritte zu machen, indem sie leicht theatralisch die Beine anheben. Andere kämpfen gegen das Zerfließen, indem sie sich ganz breit auf dem Boden machen und Stück für Stück zusammenziehen. Und doch bleibt jeder bei sich.
Bis mehrere Bälle ins Spiel kommen. Das ist auch der Einstieg in den Partner-Kontakt-Tanz. Jeder sucht sich einen Partner. Ich nähere mich Raina. Aus zwei Gründen: Weil ich sie kenne und sie eine Frau ist. Mich an einen Mann heranzuwagen, traue ich mich nicht. „Hat schon was Sexuelles mit uns beiden hier", zwinkere ich ihr zu, als wir den Softball zwischen unseren Oberkörpern balancieren. Raina muss lächeln. „Natürlich hat es anfangs was Befremdliches, wenn man das zuvor noch nie gemacht hat und sich plötzlich neben einem männlichen Teilnehmer wiederfindet, mit dem man improvisiert", erzählt sie mir kurz nach der Übung. Allerdings seien es nur Vorurteile. „Wir sind hier in einem geschützten Raum, um uns auszuleben. Sexualität spielt hierbei überhaupt keine Rolle." Und tatsächlich fällt mir auf, wie locker die Teilnehmer miteinander umgehen. Sie rollen übereinander, sinken aufeinander nieder. Der Körper wird dabei zu einem Instrument, auf der Suche nach neuer Bewegungsmöglichkeit. Der Kopf schaltet aus. Plötzlich fühle ich mich total entlarvt und leicht beschämt. Bin ich hier die einzige mit diesen Gedanken? „Auch Quatsch", spricht mir Raina Mut zu. „Man muss sich nur darauf einlassen und den Kopf ausschalten. Dann läuft es von alleine." Sie behält Recht. Als die Musik zum Jam einsetzt, schließe ich die Augen und lasse mich endlich fallen. Und dann bin ich plötzlich frei. In diesem Raum, im Herzen von Saarbrücken. Fernab des ständigen Termindrucks und der endlosen Staus. Seit einer langen Zeit finde ich wieder zu mir. Ohne Kompromisse.