AnnenMayKantereit aus Köln ist die Band der Stunde. Das liegt vor allem an Henning May und seiner tief-kratzigen Stimme. Auf dem Album „Schlagschatten" singt er über vermeintliche Traumfrauen, chaotische Freitagabende und persönliche Dämonen.
Herr May, wie schreibt man authentische Songs mit hohem Gänsehautfaktor?
Also über den Gänsehautfaktor weiß ich nicht so viel. Aber wenn man authentische Lieder schreiben will, muss man ehrlich zu sich selbst sein, ohne sich zu verstellen. Man muss sich gut artikulieren können. Und dann muss man gucken, was das in einem auslöst. Bei mir geht es viel um Quantität. Ich muss einfach ganz viel schreiben, damit mir ein paar Sätze gefallen. Und von diesen Sätzen aus arbeite ich weiter. Ich schreibe ehrliche Lieder für mich, aber nicht so sehr über mich.
Wie kam es zu dem Song „Freitag"?
Chris, Malte und Severin haben einfach Mucke gemacht, und ich habe dazu einfach ein paar Zeilen in den Raum geworfen. Irgendwann habe ich gesungen: „In der Innenstadt fahren junge Männer Autos, die ihnen nicht gehören." Da mussten wir alle lachen. Es war an einem Freitagabend, also haben wir einen kleinen Song über Freitagabende geschrieben: Über unsere Freunde, die im Gewerbegebiet Drogen kaufen. Über die Jungs in den dicken Autos, die damit irgendwas kompensieren.
Was haben Sie sich bei dem Text gedacht?
Ein Kumpel meinte, der Text sei ein bisschen rassistisch: „In der Innenstadt fahren junge Männer Autos, die ihnen nicht gehören. Sie werden heute Nacht so oft auf die Familie schwören." Er wollte wissen, weshalb ich so über Türken reden würde. Da sagte ich zu ihm: „Sorry, aber das ist in deinem Kopf. Im Lied kommt es nicht vor. Ich denke dabei auch an Leute aus Bergheim mit meiner Hautfarbe, die viel ins Fitnessstudio gehen und Bock haben, mit einem dicken BMW durch die Innenstadt zu preschen, den sie sich nicht gekauft, sondern geleast haben. Wenn du dabei an junge Männer mit Migrationshintergrund denkst, dann ist das dein Rassismus in dir. Das hat nichts mit mir zu tun!"
Wie kommt es eigentlich zu solch rassistischen Klischees?
Ich glaube, es hat etwas mit Filmen, TV-Serien und Youtube-Videos zu tun. Im Tatort sind die bösen Drogenschmuggler oft nicht die weißen Kartoffeln, sondern persische oder türkische Großfamilien. Die fahren dann halt einen geleasten Mercedes. Und in Youtube-Videos begegnet man unheimlich vielen Männern wie Haftbefehl, Ufo oder Gringo. Die singen auf Deutsch mit einem Akzent und einem erkennbaren Migrationshintergrund darüber, wie geil sie Autos finden. Das ist ein Stereotyp, das sich verankert hat.
Wollen Sie mit Ihrer Musik auch Zustände in unserer Gesellschaft zum Ausdruck bringen?
So eine eindeutige Intention würde ich nicht unterschreiben. Aber natürlich beschäftigt mich die Gesellschaft um mich herum enorm, weil ich in ihr leben muss. Ich singe besonders gerne über Dinge, die ich krass finde. Zum Beispiel den Freitagabend. Das Stereotyp vom Mann ist, stark zu sein und eine dicke Karre zu fahren. Das trifft auch auf viele zu, was ich echt krass finde. Es ist auch ein Lied über diese Blasen, in denen der Freitagabend stattfindet. Jeder zieht sein Ding für sich durch.
In welcher Stimmung haben Sie „Weiße Wand" geschrieben – ein Song, in dem der Satz „Flüchtlingskrise fühlt sich an wie Reichstagsbrand" vorkommt?
Diese Zeile drückt eine ganz konkrete Angst aus. Nämlich die, dass wir in 30 Jahren über die Flüchtlingskrise so reden werden wie man heute über den Reichstagsbrand redet: Die Rechten haben die Flüchtlingskrise so gut instrumentalisiert, dass sie dafür von vielen Seiten Sympathien bekommen. Das hat sie in die Lage versetzt, 25 Prozent der Bevölkerung zu stellen. Diese kleine Gruppe ist aber so radikal, dass der große Rest sich nicht mehr traut, Widerstand auszuüben. Zum Beispiel wurde das Konzert von Feine Sahne Fischfilet auf der historischen Bauhaus-Bühne in Dessau abgesagt aus Angst um das Weltkulturerbe. Die Polizei kann es nicht mehr unter Kontrolle haben, wenn so viele gewaltbereite Rechte kommen, um gegen eine linke Band zu demonstrieren. Daran sieht man, wie weit es schon gekommen ist.
Glauben Sie, dass ein Teil der Rechten noch zu retten ist?
Ich kann natürlich nur mutmaßen. Wer AfD wählt, wählt halt AfD, und damit ist man auch irgendwie verloren. Interessant an dem momentanen Diskurs finde ich, dass viele dazu aufrufen, die AfD nicht zu wählen. Aber was bringt das denn? Jeder, der diese Partei wählen will, wählt sie auch. Es gibt nicht viele Leute auf der Kippe, die man auf diese Weise überzeugen kann. Dagegen zu sein, ist immer sehr leicht.
Was könnte man denn sonst noch tun?
Viel schwerer ist der andere Schritt: Zu sagen, wofür ich bin und welcher Gruppe ich mich zuordne. Was ist überhaupt politisch? Ist es überhaupt richtig politisch, auf eine Demo zu gehen? Oder ist politisch zu sein eher, sich für parlamentarische Prozesse zu interessieren? Oder vielleicht auch mal zu einer Europawahl zu gehen? Vielleicht auch mal im Freundeskreis Wahlkampf für eine Partei zu machen? Es ist ein riesiger Wust geworden, in dem unglaublich viele Leute sich auf die Position verkrochen haben, zu sagen: „Die AfD ist scheiße. Ich gehöre zu den Guten." Das finde ich sehr schade.
Leben Sie in einer Blase oder kennen Sie auch AfD-Wähler persönlich?
Ich kenne Leute, die rechtes Gedankengut haben, persönlich, weil ich sehr fußballinteressiert bin. Ich habe Freunde, die aufgrund ihres Umfeldes und ihrer Sozialisation ein bisschen so denken. Es ist die Aufgabe des Freundeskreises, dieses Denken bei einem Kumpel Stück für Stück abzubauen, weil man ihn nicht fallen lassen will. Vielleicht ist er ja nur falsch gestartet. Natürlich lebe ich auch in einer Blase, aber da wir als Band uns in letzter Zeit über die sozialen Medien geäußert haben, schreiben uns viele Leute sehr negative Nachrichten.
Was steht da drin?
Unsere Haltung wird kritisiert, und wir werden persönlich angegriffen. Viele Leute sind auch der Auffassung, dass ich homosexuell sei und machen ihrem Unmut darüber Luft. Daran merke ich, dass meine Blase durchlässig wird. In vielen Youtube-Kommentaren wird das Wort „schwul" in einem negativen Zusammenhang benutzt, um uns zu beschreiben. Das ist krass.
Reagieren Sie darauf?
Nein, das bringt nichts. Ich finde, man sollte lieber eine Grundhaltung zeigen. Wenn man soziale Medien benutzt, könnte man zum Beispiel ein Video drehen, in dem eine Regenbogenflagge zu sehen ist. Damit macht man allen Menschen durch die Blume klar, dass jeder leben kann wie er will. Einen Screenshot von den Hass-Nachrichten und -Posts zu machen, ist mir zu blöd. Damit gebe ich den Hatern eine Aufmerksamkeit, die sie gar nicht verdienen. Wir haben auf die letzte Seite unseres Album-Booklets vier Sätze geschrieben. Einer davon lautet: „Kein Platz für Homophobie und Sexismus!" Wir finden, dass man als weißer heterosexueller Mann an sich arbeiten und auch für andere Stellung beziehen muss.
Haben Sie deshalb Ihr Label „Irrsinn Tonträger" genannt?
„Irrsinn Tonträger" hat unser Manager mit uns zusammen gegründet. Der Name ist ganz klar auf diesen Wahnsinn bezogen. Das Ganze hat mehr mit Irren als mit Wahn zu tun. Wir waren jetzt noch einmal in Istanbul, um dort ein Konzert zu geben. Eigentlich sollten wir vor 100 Leuten spielen, aber es kamen 2.500, und die Polizei hat die Straße abgesperrt. Absoluter Irrsinn. Keiner weiß, wieso so viele da unten unsere Musik hören. Aber das ist eben so.
Kann man als deutsche Band spontan in Istanbul auftreten?
Das haben wir gerade bewiesen. Sie können sich nicht vorstellen, wie dankbar die Leute waren und was für Nachrichten wir gekriegt haben. Die Leute im alternativen Viertel Kadikoy erzählten uns eigentlich alle das Gleiche: dass keine internationale Band mehr Bock hat, in Istanbul zu spielen. Die haben Angst vor Terror, vor Erdogan, vor einer aggressiven Stimmung, vor dem Islam. Ich glaube, das ist eine viel zu groß gedachte Angst. Die jungen Leute dort hoffen jetzt, dass unser Konzert ein erster Schritt war, dass wieder mehr Bands zu ihnen kommen.
Und wie war es für Sie persönlich?
Für uns war es auch krass. Ich sitze da und denke: Hey, warum funktioniert Wikipedia nicht? Der türkische Staat hat die Seite einfach gesperrt. Auch die Tagesschau-App funktioniert nicht, aber man kann die Sendung online finden. Daran merkt man, wie der türkische Staat versucht, die Blase noch enger zu machen. Istanbul war für uns eine Schwarz-Weiß-Erfahrung. Es gibt dort unheimlich liebe und offene Menschen, aber auf der anderen Seite habe ich auch Männer getroffen, die mich im Vorbeigehen auf Türkisch beleidigten, weil ich längere Haare habe.
Haben die Konzertbesucher Ihre Botschaft verstanden?
Ich hatte mir natürlich ein paar türkische Sätze zurechtlegt, aber die konnten fast alle unsere Texte lautmalerisch mitsingen, was uns ziemlich verwirrte. Irgendwann sagte ich auf Türkisch, dass der Sultan – also Erdogan – nicht in Kadikoy lebt. In Kadikoy lebt nur die freie Liebe. Da sind die total ausgerastet. Ich sagte auch, dass wir wiederkommen und Freunde mitbringen werden. So was habe ich noch nie erlebt, auch wenn sich in Deutschland viele für unsere Musik begeistern. Als ich von der Bühne runter wollte, haben mich Männer und Frauen geküsst – im wahrsten Sinne des Wortes. Das war super-weird. Sie legten mir sogar die Hand auf. Es war eine richtige Justin-Bieber-Erfahrung. Nach dem Auftritt mussten wir bis 3 Uhr nachts warten, bis wir aus dem kleinen Club rauskamen, weil davor so viele Leute standen.
Was haben Sie von der Istanbul-Erfahrung für sich mitgenommen?
Das hat mich noch einmal motiviert, mich selbst mehr zu äußern. Ich habe bisher die Position vertreten, dass Worte wie Rechts, Links oder AfD eigentlich nichts in Liedern zu suchen haben, weil das dann immer Agitpop wird. Gleichzeitig will ich nicht das Männeken sein, das sich zu allem äußert. Ich befürworte Campinos Engagement, aber er muss wirklich zu allem etwas sagen. Ich möchte ungern mit meiner Meinung PR machen. Das ist aber manchmal gar nicht möglich. Wenn schon, dann soll sich der Zeigefinger auf uns richten. Wir sind so privilegiert groß geworden. In vielen anderen Ländern wäre es mit mir schlechter ausgegangen. Ich habe die Schule geschwänzt und gekifft.
Stört es Sie, dass Sie das Image des melancholischen Kettenrauchers und Trinkers haben?
Rotwein würde mich stören, weil ich keinen mag. Zigarettenraucher könnte ich nachvollziehen, ist aber nicht mein Ding. Ich verorte mich eher bei Marihuana, und das kann man nicht wie Zigaretten handhaben. Meine Grundstimmung ist nicht melancholisch, aber ich mache gerne melancholische Musik. Wenn mein Image das des Rotwein trinkenden Kettenrauchers ist, der melancholische Lieder schreibt, dann komme ich damit klar. Ich habe nicht das Bedürfnis, wirklich als der gesehen zu werden, der ich bin. Das ist ein Kampf, den man nur verlieren kann.