Was wären die Folgen, wenn jeder frei fahren dürfte? Die einen befürchten, dass der ÖPNV dann zusammenbricht, weil er der Nachfrage nicht gewachsen ist – die anderen sehen darin ein Stück Freiheit für die Bürger. Wer hat Recht? Ein Pro und Contra zum kostenlosen Nahverkehr.
Pro
Einfach einsteigen und losfahren: kostenlos mit Bus und Bahn
Was wäre das für eine Erleichterung, wenn jedermann (und auch jede Frau) einfach so in den Bus oder die Bahn einsteigen, ein Stück fahren und wieder aussteigen könnte! Ohne die Hektik, schnell noch am Automat einen Fahrschein ziehen zu müssen. Ohne die Angst, kontrolliert und erwischt zu werden. Eine solche Erfahrung hat schon bei manchem traumatische Folgen nach sich gezogen. Das Gefühl, gebrandmarkt, schuldig, vor aller Augen bloßgestellt zu sein – es würde der Vergangenheit angehören. Wenn der öffentliche Nahverkehr kostenlos wäre.
Jeder hat das Recht auf Mobilität, auch die einkommensschwachen Teile der Bevölkerung. Niemand müsste sich noch überlegen, ob das Fahrgeld für den Arztbesuch oder einen Trip zu Freunden im Nachbarviertel noch reicht. Die Fahrkartenautomaten könnten abgebaut, die Fahrkartenkontrolleure für sinnvollere Aufgaben eingesetzt werden. Sie könnten zum Beispiel Snacks und Erfrischungen in der Bahn verkaufen oder sich um hilfsbedürftige Fahrgäste kümmern. Rollstuhlfahrer oder Menschen mit Rollator wären dankbar.
Bahnen und Busse wären endlich auch auf den Strecken wieder gut besucht, die bisher kaum frequentiert waren. Dass Linien eingestellt werden, weil niemand sie nutzt, ist passé. Nun steuert man mit dem kostenlosen Nahverkehr auch Ziele an, für die man zuvor das Auto nutzte. Bahnen und Busse werden so ausgebaut, dass man auch Lasten transportieren könnte, wie zum Beispiel Selbstbau-Möbel, Getränkekisten oder Kühlschränke. Neue Züge oder Busse könnten mit Ruhezonen ausgestattet sein, wie das in den ICEs der Fall ist: Lautes Reden, Handy-klingeln und Musikhören sind auf diesen Plätzen nicht erlaubt.
Der Autoverkehr geht zurück, die Luft in den Innenstädten wird sauberer, die endlosen Staus sind Geschichte, und der Kampf um Parkplätze wäre zu Ende. Endlich öffnen sich in den Städten wieder Räume, die die Bürger zum Flanieren, Sich-Erholen und Spielen nutzen können. Die Kommunen sparen eine Menge Geld, das sie vorher in die Infrastruktur für den Autoverkehr stecken mussten: Straßenbau, Verkehrsüberwachung, Bau von Parkhäusern, Parkraumbewirtschaftung und vieles mehr. Auf den gewonnenen Flächen könnten Gärten und Gemüsebeete angelegt werden – die Stadt versorgt sich selbst.
Weitere Finanzmittel für den kostenlosen Nahverkehr könnten von einer Maut kommen, die jeder Autofahrer, der immer noch in die Innenstadt einfahren will, zu bezahlen hat. Dazu sollten luxuriösere und schadstoffschädliche Autos am höchsten besteuert werden. Wer sich auch in Zukunft nicht von seinem SUV trennen kann, wird an seine soziale Verantwortung erinnert und muss dafür eben mehr an die Gemeinschaft zahlen.
Insgesamt würde sich der Gesundheitszustand der Bevölkerung verbessern: saubere Luft, mehr Bewegung durch das Gehen von und zu den Haltestellen, weniger Stress. Reha-Kliniken könnten zugemacht, Behandlungskosten eingespart werden. Das entlastet die Krankenkassen und wäre ein Grund für sie, sich am kostenlosen Nahverkehr zu beteiligen.
Weil die Städte attraktiver werden, ziehen sie auch mehr Besucher an. Wer ohne Stress und Stau in die Innenstadt fahren kann, wird dies öfter tun. Aus traurigen Fußgängerzonen werden quirlige Märkte und gastronomische Erlebnisorte. Der Mensch hat ein Stück Freiheit mehr.
Volker Thomas
Contra
Freifahrt? Nein danke, ich zahle lieber
Freie Fahrt in Bus oder Bahn? Manche träumen davon. Weil, das glauben sie, Autofahrer dann ihr Auto zu Hause stehen lassen. Weniger Stau, Lärm, Unfälle, Feinstaub und Stickoxyde. Das könnten schon gute Gründe sein. Auch Ökonomen finden die Idee klasse. Das Argument: Die einzelne Fahrt eines Fahrgastes mit Bus oder Bahn erzeugt für den Betrieb keine zusätzlichen Kosten. Die Bahn fährt sowieso, der Fahrer bekommt sein Gehalt, egal, wie viele an der Haltestelle warten. Es ist die hippe Null-Grenzkosten-Theorie. Gäbe es Freifahrt, würden die Fahrzeuge besser ausgelastet. Mehr Menschen würden transportiert, ohne dass es insgesamt teurer würde.
Selbst die zwölf Milliarden, die die Fahrten ohne Fahrkarte den Steuerzahler kosten würde, wenn man sie deutschlandweit flächendeckend machen würde, klingen noch bezahlbar. Wenn es der Gesellschaft wirklich wichtig wäre, müsste und könnte sie das Geld schon zusammenbringen. Öffentlicher Verkehr würde überall öffentlich bezuschusst. Auf dem Land sehr viel mehr als in den Städten. Bei den Berliner Verkehrsbetrieben kommt immer noch über die Hälfte des Umsatzes von den Fahrkarten, der Zuschussanteil liegt nur bei etwa 40 Prozent. Den Anteil könnte man natürlich schon gegen 100 Prozent bringen. Aber auf die Gefahr hin, dass dann das Gesamtbudget stärker unter politischen Druck gerät – und dass dann Strecken so ausgedünnt werden, wie auf dem Land heute schon, wo der Staat quasi vollfinanziert.
Allerdings erzeugt das Fahren mit der U-Bahn in Wahrheit Kosten, die weit über den Fahrpreis hinausgehen. Der Verkehrsstau morgens und abends wird vor allem durch Pendler erzeugt. Für die aber ist der Preis für die Jahreskarte kaum entscheidend. Für Pendler geht es meist um andere Dinge, die sie gegen das Autofahren abwägen: Überfüllung, Wartezeiten, Zugausfälle, Übergangsmöglichkeiten zum Fahrrad etc. Wer nur aufs Geld schaut, müsste sich natürlich die Jahreskarte kaufen, statt sein Auto in der Großstadt zu nutzen. Aber die immateriellen Kosten sind oft viel höher. Diese senkt man nicht mit Freifahrten – im Gegenteil: nur mit mehr Investitionen, also mehr Geld.
Was zeigt sich in der Realität? Tallinn, die Hauptstadt Estlands, hat Busse und Bahnen ganz kostenlos gemacht – für alle. Alle? Nein, nur für die Bürger Tallins. Damit haben sich zum einen viele Esten nicht mehr im Umland, sondern in der Stadt angemeldet, was die Steuereinnahmen erhöhte, und die Sache gegenfinanzierte – auf Kosten des Umlands. Und Luxemburg, das das freie Fahren ab 2020 einführt, ist ohnehin einkommensmäßig ein extremer Sonderfall – das Geld ist ja da. Nicht vergleichbar.
In den meisten Freifahrtmodellen wird eine Gruppe definiert, die davon profitieren darf. So macht der Freifahrtschein das Bahnfahren zu einer gesellschaftlichen Tätigkeit, etwa für diejenigen, die sich dieses Recht erlauben. Das wirft dann die Frage der Zugehörigkeit auf: Wer gehört zu dieser Gruppe, wer nicht? Geht es um Behinderte, Schüler, Senioren? Ein Freiticket hingegen für absolut alle ist kaum durchhaltbar, weil es in Bussen und Bahnen schlicht zu voll würde. Wer darf also – und wer nicht?
Da zahle ich lieber 2,80 Euro – und keiner fragt nach.