Das Südtal Valposchiavo im Schweizer Kanton Graubünden punktet mit einer herrlichen Landschaft, faszinierenden Gletschertöpfen und kulturellen Besonderheiten, geprägt durch die Nähe zu Italien.
Es hat ordentlich geschneit in der Nacht, gut, dass wir Romeo Lardi dabei haben, der das Valposchiavo wie kein Zweiter kennt. Und der für diesen Ausflug zum Gletschergarten von Cavaglia Schneeschuhe mitgebracht hat, anders könnte man heute das Gelände auf knapp 1.700 Metern Höhe gar nicht erkunden. Also zurren wir die Gurte der Schuhe fest und stapfen unserem Begleiter hinterher – vom kleinen Bahnhof mitten in der verschneiten Landschaft Richtung Waldrand. Wo sich eine geologische Besonderheit verbirgt, die sogenannten Gletschermühlen nämlich, topf- oder schachtartige Vertiefungen, die sich immer dort bildeten, wo Schmelzwasser von Gletschern abfloss. Hier bei Poschiavo, im Süden von Graubünden, seien sie vor etwa 11.000 Jahren entstanden, erzählt Romeo. Der Palügletscher habe hier eine Mulde gegraben, und das Schmelzwasser habe unter hohem Druck und Sand und Geröll mit sich führend, so die Töpfe in den Felsen gegraben.
Ein Blick in die geologische Vergangenheit sei das, in die Entstehung der Alpen, schwärmt Romeo Lardi. Ihm ist es zu verdanken, dass die „Töpfe der Riesen" heute besichtigt werden können. Ende der 90er-Jahre gründete er einen Förderverein, gemeinsam mit Vertretern der Rhätischen Bahn wurden die Gletschertöpfe freigeräumt, das Gelände zugänglich und zu einer touristischen Attraktion gemacht. „Anfangs hielten mich viele für einen Träumer", sagt der durchtrainierte Endsechziger, „letztes Jahr aber haben wir insgesamt 170 Gruppen durch unseren Gletschergarten geführt, darunter viele Schulgruppen." Die erfahren hier, wie es in der Region in der letzten Eiszeit aussah, sehen, wie allein durch die Kraft des Wassers Gestein ausgehöhlt und geformt wurde und natürliche Kunstwerke entstanden.
Heute freilich sieht man davon nicht ganz so viel, denn alles ist mit einer dicken Schneeschicht überzogen. Einen kleinen Hügel geht es hinauf, zu einem riesigen Felsblock, dem erratischen Stein, der vom Gletscher hierhin geschoben wurde. Wir stapfen an mehreren Gletschertöpfen vorbei, deren Form unter dem Schnee gerade noch zu erahnen ist. Und auf dem Rückweg weist Romeo noch auf eine Aussichtsplattform hin, von der aus man in die spektakuläre Schlucht des Flusses Cavagliosco blickt.
Bahnstrecke ist eine der steilsten der Welt
Zurück zum kleinen Bahnhof von Cavaglia, der nicht mehr als ein Warteraum mitten in der Landschaft ist, gleich kommt die Berninabahn, die uns ins Tal nach Poschiavo bringen soll. Und tatsächlich, pünktlich auf die Minute hält der rote Zug vor uns, der auf seiner Fahrt von St. Moritz bis ins italienische Tirano 1.300 Höhenmeter überwindet.
Die zwischen 1906 und 1909 gebaute Bahnstrecke ist Unesco-Welterbe, denn sie gilt als höchste Adhäsionsbahn der Alpen und mit sieben Prozent Gefälle als eine der steilsten der Welt. Die Strecke von St. Moritz über den Bernina-Pass bis hinunter nach Italien führt über zahlreiche Brücken und durch Viadukte, durch Schutzgalerien in lawinengefährdeten Abschnitten und sie schlängelt sich in einigen Passagen förmlich in Serpentinen bergab. Klar, dass die Aussichten spektakulär sind, im Sommer wie auch jetzt im Winter, wenn Poschiavo mit seinen verschneiten Dächern und den Kirchtürmen ins Blickfeld rückt.
Nicht nur wegen der Architektur im Städtchen hat der Besucher das Gefühl, nicht mehr in der Schweiz, sondern vielleicht doch schon in Italien angelangt zu sein. Kaspar Howald lächelt. Regelmäßig führt er Gäste durch den sogenannten Borgo, den zentralen Teil von Poschiavo. Und erzählt dabei auch, wie das gesamte Tal über Jahrhunderte eine wichtige Rolle im Handelsverkehr über die Alpen hatte. Der Bernina-Pass gehörte zu den Hauptverkehrsadern, über die unter anderem der Veltliner Wein auf die Nordseite der Alpen gelangte. Als die Bündner 1797 die Herrschaft über das Veltlin, zu dem auch Poschiavo gehörte, aufgaben, rechnete man sich hier mal Italien, mal der Schweiz zu. Konnte sich so Steuerabgaben und dem Militärdienst entziehen, was 1864 endete, als die Einwohner ins Schweizer Bürgerrecht aufgenommen wurden.
Nah an Italien blieb man dennoch im Valposchiavo, was sich auf unterschiedliche Weise ausdrückte und es heute noch tut. Bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts war der Schmuggel eine wichtige Einnahmequelle. Kaffee und Zigaretten wurden über die „grüne Grenze" nach Italien gebracht, erzählt Kaspar, und läuft auf die sogenannte Casa Tome zu, ein verwittertes Haus, dessen ältester Teil auf das 14. Jahrhundert zurückgeht. Aus wuchtigen Steinen gebaut, mit einem überdachten Hof, dem „curt", von dem aus Treppen ins Obergeschoss führen. Ein schlicht eingerichtetes Gebäude mit hölzernen Möbeln, in dem der Besucher nachempfinden kann, wie die Puschlaver Bauern einst lebten.
Eine der letzten Handwebereien
Ganz anders mutet die Piazza an, geradezu italienisch wirkt der Hauptplatz des Borgo, mit seinen hellen Patrizierhäusern. In Gelb, Rosé und Weiß strahlen die Fassaden, bunte Fensterläden setzen Farbakzente. Ein kleiner Brunnen auf einer Seite des Platzes, gegenüber die Kirche San Vittore mit dem imposanten eckigen Turm. Im 19. Jahrhundert seien viele Bewohner des Tals ausgewandert – als Zuckerbäcker hätten sie in Städten wie Rom oder Mailand, Bilbao oder St. Petersburg gearbeitet und dabei viel Geld verdient, sagt Kaspar. Und als sie zurückkamen, wollten sie nicht mehr in den alten unkomfortablen Bauernhäusern leben, sondern sich Domizile nach dem neuesten Stand bauen lassen. Mit Bädern und fließendem Wasser, mit repräsentativen Empfangs- und Wohnräumen. So wie das Casa Matossi Lendi, das mit seiner teilweise bemalten Fassade wie ein Renaissancepalast daherkommt. Was durch den sorgfältig angelegten Garten hinter dem Haus noch verstärkt wird.
Von den „Palazzi der Zuckerbäcker", in einem der stattlichen Gebäude ist das Museu Casa Console mit seiner Kunstsammlung untergebracht, geht es in eine Seitenstraße. Und zu Claudia Lazzarini und ihrer „Tessitura Valposchiavo".
Die wurde 1955 gegründet, um die Abwanderung aus dem Tal aufzuhalten und um das Handweben als Teil der lokalen Tradition zu erhalten. Heute sei sie eine der letzten professionellen Handwebereien in der Schweiz, erzählt Claudia Lazzarini stolz, einer von drei Handweber-Lehrlingen im gesamten Land werde immerhin hier ausgebildet. Wie früher wird in der Tessitura vor allem hochwertige Gebrauchswäsche hergestellt – Geschirrtücher, Kissen, Tischdecken – aus Leinen, Baumwolle und Seide. Aber auch eine Badeserie ist in Zusammenarbeit mit Kolleginnen in Zürich entstanden – und kürzlich erst mit dem renommierten Prix Jumelles ausgezeichnet worden. Der Webstuhl klappert, und Claudia erzählt weiter. Wie wichtig es sei, eine der Traditionen des Tals zu bewahren, sie fit für das 21. Jahrhundert zu machen. Kaspar nickt zustimmend.
Lokale Produkte stehen im Mittelpunkt
Vor diesem Hintergrund habe man vor ein paar Jahren das Label „100 Prozent Valposchiavo" aus der Taufe gehoben, das die lokalen Produkte, vor allem Lebensmittel, in den Mittelpunkt stellt. Viele Restaurants und Hotels im Tal haben regionalen Spezialitäten auf ihren Speisekarten einen besonderen Platz eingeräumt, manche arbeiten inzwischen fast nur noch mit Produkten, die aus der Nachbarschaft stammen. So wie Orlando Lardi, der in einem Kellergewölbe in seiner Hostaria all das auf den Tisch bringt, wofür die Region kulinarisch steht. Von der Buchweizensuppe, traditionell wurde und wird das Getreide hier angebaut, über die Capunets, eine Art Spinatspätzle, bis hin zur Mortadella de Poschiavo. Natürlich gibt es dazu einen Tropfen aus den Weinbergen des Valposchiavo. Ein kulinarischer Genuss, auch wenn man sich an einige Geschmacksnuancen erst gewöhnen muss. Aber alles fügt sich zum stimmigen Gesamtbild – auch mit den Impressionen des Wintertags im Kopf. Authentischer lässt sich wohl kaum eine Region erleben.