Eine Ära geht zu Ende – Festivalchef Dieter Kosslick nimmt nach 18 Jahren seinen Hut. Die 69. Internationalen Filmfestspiele Berlin 2019 werden seine letzten sein. Ein Rückblick.
Die Erwartungen an die Berlinale 2002 sind groß. Nicht alles wird sich verändern, dazu war die Zeit zu kurz. Eine radikale Veränderung des Festivals ist auch nicht nötig", so schrieb Dieter Kosslick als frischgebackener Festival-Chef im Berlinale-Katalog. Er war am 1. Mai 2001 auf Moritz de Hadeln gefolgt, dem man eine Abneigung gegenüber deutschen Filmen nachsagte. Kosslick war anders: jünger, aufgeschlossener, immer fröhlich. Entgegen seiner Beteuerung änderte sich bald schon eine ganze Menge. Der deutsche Film wurde zur Chefsache – auch zu erkennen an der neuen Sektion „Perspektive Deutsches Kino", die einen differenzierten Blick auf die deutsche Filmlandschaft erlaubte.
Sie entwickelte sich zu einer „wunderbaren Plattform, um mehr Aufmerksamkeit für den Nachwuchs zu erreichen", schwärmte später die Regisseurin Jules Herrmann. Für ihren Debutfilm „Liebmann" sei die Berlinale ein großes Sprungbrett gewesen. Die „Perspektive Deutsches Kino" biete auch Treffen mit Filmschaffenden und internationalen Festivalorganisatoren. Wie beim 2003 eingeführten Talent Campus entstünden so viele neue Kontakte, um neue Projekte voranzutreiben, betont Jules Herrmann.
2004 brachte der „Co-Production Market" zum ersten Mal internationale Produzenten und Finanziers auf der Berlinale zusammen, eine Idee von Dieter Kosslick. Das Kinderfilmfest wurde um den Wettbewerb „14plus" für Jugendliche erweitert, hinzu kam auch das „Berlinale Special" für populäre Filme, außergewöhnliche Formate und besondere Filmpersönlichkeiten. In den Jahren darauf ging der World Cinema Fund an den Start, es folgten das Film- und Videokunstprogramm „Forum Expanded", der Kurzfilmwettbewerb und das „Kulinarische Kino". Die Neuerungen zogen, wie die Zahlen von 2007 belegen: Mit 430.000 Kinobesuchen und 19.000 Akkreditierten aus 127 Ländern erreichte die Festival-Beliebtheit einen neuen Höchststand.
Im Jahre 2008 kam die Sektion „Generation" dazu, verantwortlich: Maryanne Redpath, die stellvertretenden Leiterin des Kinderfilmfests. Auch diese Sektion wurde schnell populär: Die Zuschauerzahlen vervielfachten sich auf heute 70.000, die Zahl der gezeigten Filme hat sich mehr als verdoppelt. „Zudem hat sich ‚Generation‘ zu einer anerkannten Plattform für Filmschaffende entwickelt", erklärt Maryanne Redpath. Anspruchsvolle Neuentdeckungen des internationalen Gegenwartskinos sollen insbesondere jungen Menschen präsentiert werden. „Der Berlinale geht es um ihren Platz in Kultur, Politik und Gesellschaft. Wie werden Jugendliche dargestellt? Damit genießt ‚Generation‘ eine einzigartige Stellung als Impulsgeberin für ein Kino für junge Menschen."
Als Dieter Kosslick die Rolling Stones zur Berlinale einlud
Das Berlinale-Jahr 2008 war sehr musikalisch. Dieter Kosslick schaffte es, die Rolling Stones auf den Potsdamer Platz zu bringen und auch Madonna, Neil Young und Patti Smith folgten seinem Ruf. Erstmalig lief ein Dokumentarfilm im Wettbewerb und gewann den Großen Preis der Jury. Die Kurzfilmsektion wurde in Berlinale Shorts umbenannt.
2009 kam der Friedrichstadt-Palast als Spielstätte für die „Berlinale Special"-Galas und „Wettbewerbs"-Wiederholungen hinzu, auch im „Cinema Paris" laufen nun „Berlinale Special"-Formate. 2010 wurde das Festival 60 Jahre alt und zog mit der neuen Sonderreihe „Berlinale Goes Kiez" in die Programmkinos der Stadt und ihre Umgebung.
2011 blieb während des Festivals ein Stuhl der internationalen Jury demonstrativ leer, weil der iranische Regisseur Jafar Panahi nicht anreisen durfte. 2012 verursachte Shah Rukh Khan mal wieder ein Verkehrschaos und Meryl Streep erhielt den Goldenen Ehrenbär für ihr Lebenswerk. Das Haus der Berliner Festspiele wurde neue Spielstätte für Film-Talks. 2013 wieder ein Rekord: 300.000 verkaufte Eintrittskarten – die Berlinale ist und bleibt das weltgrößte Publikumsfestival. Die neue Sonderreihe: „NATIVe – A Journey into Indigenous Cinema" startete mit Filmen aus Australien, Neuseeland/Ozeanien, Kanada und den USA.
„Die Resonanz war von Beginn an hervorragend", erinnert sich Co-Kuratorin Maryanne Redpath. „‚NATIVe‘ ist mittlerweile aus der Berlinale nicht mehr wegzudenken. Das beweist auch der ‚NATIVe‘:-Stand beim European Film Market. Dieser wächst Jahr für Jahr und zeigt: Der indigene Film hat auch in der internationalen Filmindustrie mittlerweile einen festen Platz." Durch den Sonderreihenstatus kann alle zwei Jahre ein anderer regionaler Schwerpunkt gesetzt werden. „Das Format bietet die Möglichkeit, das indigene Filmschaffen einer Region aus den letzten Jahrzehnten in seiner ganzen Vielfalt abzubilden", erklärt die gebürtige Neuseeländerin weiter.
2014 steht nach fast drei Jahren Umbau wieder der Zoo-Palast als Premierenkino zur Verfügung. Der Berlinale Talent Campus nennt sich nun „Berlinale Talents". Für den kleinen Hunger zwischen den Vorführungen wurde eine Street Food-Meile eingerichtet. Die neue Reihe „Berlinale Special Series" greift 2015 den Trend zu seriellen Formaten auf und zeigt neue Produktionen als Kinopremieren.
2016 leben in Berlin fast 80.000 Menschen mehr: Geflüchtete aus Kriegs- und Armutsgebieten. Die Berlinale organisiert Spendenaufrufe, Patenschaften für Kinobesuche und Hospitationen von Flüchtlingen beim Festival. Neu im Jahr 2017: der „Glashütte Original-Dokumentarfilmpreis".
2018 sorgte ein von 79 Filmschaffenden unterschriebener Brief für ein Rauschen im Blätterwald. Es ging um die Neubesetzung der Festivalleitung, es wurde mehr Transparenz und Vielfalt gefordert. Und dann war da noch die auch nach Deutschland schwappende „#metoo"-Debatte. Die Berlinale reagierte darauf mit der Einrichtung einer Beschwerde-Hotline.
„Er hat der Berlinale gut getan"
Und 2019? Als Festivalchef wurde Dieter Kosslick ja immer mal wieder kritisiert. Zu viel Glamour, zu wenig Substanz, mal war er „Mister Berlinale", mal der „Gute-Laune-Bär". Die Berlinale-Kolumnist Harald Martenstein vom „Tagesspiegel" zieht eine positive Bilanz. „Dieter Kosslick als freundlicher, selbstironischer Mensch und geschickter Kommunikator stellte das Kontrastprogramm zu seinem oft hölzernen Vorgänger dar. Er war bestens vernetzt, hat für gute Laune gesorgt und das Festival zum cineastischen Volksfest ausgebaut. Ein eigenwilliger und trotzdem populärer Festivalleiter." Hat er also der Berlinale gutgetan? „Selbstverständlich. Man kann es nicht immer allen Recht machen. Auch nicht Cannes überholen oder Hollywood diktieren, welche Filme oder Stars nach Berlin kommen. Wir werden ihn vermissen." Keine Kritik? „Es war wichtig, dass es ‚Forum‘ und ‚Panorama‘ gegeben hat und hoffentlich weiter gibt. Manchmal war der Wettbewerb zu mainstreamig oder zu komödienarm – seltsam bei einem so humorvollen Festivalchef. Was ich übel nehme: Dass er sich aus politischer Korrektheit von Woody Allen distanzierte, obwohl dessen Schuld keineswegs erwiesen ist. Er hat zu gern mit den Wölfen geheult. Für Fehlentscheidungen bei den Preisen aber kann ein Festivalchef nichts, dafür ist die Jury zuständig." Und die Erwartungen für 2019? „Zum Schluss ein Feuerwerk, eine Farewell-Party. Da muss sich Berlin etwas einfallen lassen. Kosslick geht nicht ganz freiwillig, aber ehrenvoll und von vielen respektiert, von einigen sogar geliebt. Er hat ein lautes ‚Danke‘ verdient."