Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist in diesen Tagen auf Staatsbesuch in der Anden-Republik Ecuador. Imaginärer Reisebegleiter des Präsidenten ist der in Lateinamerika beliebteste Deutsche: Alexander von Humboldt (1769–1859), den die Ecuadorianer verehren und dem in 2019 hüben wie drüben zahlreiche Gedenkveranstaltungen gewidmet sind.
In diesen Tagen, da in Lateinamerika von Tijuana bis Falkland Unruhen und Orientierungslosigkeit den Alltag bestimmen, rücken die Person und das Wirken des jüngeren der beiden Humboldt-Brüder, Alexander, wieder in den Mittelpunkt. Gerade will Brasiliens neu gewählter Präsident Jair Messias Balsonaro Ressourcen plündern, die indigene Bevölkerung gängeln und um des Profits willen mit militärischer Härte gegen die Beschützer des Regenwalds vorgehen. Damit knüpft er an eine Tradition der Eroberer Lateinamerikas an, die Alexander von Humboldt als Naturforscher und Freiheitskämpfer aufs Schärfste verurteilte.
Humboldt wandte sich gegen die Ausbeutung und den Raubbau, den die Konquistadoren mit ihren Zuckerrohr-Plantagen betrieben. Kolumbus hatte Zuckerrohr bereits auf seiner zweiten Reise 1493 importiert. Die Profitgier ging so weit, dass die französische Nationalversammlung 1790 die mit der Revolution von 1789 festgeschriebenen allgemeinen Menschenrechte auf das Mutterland beschränkte, um die Sklaverei auf Lateinamerikas Zuckerrohrplantagen nicht zu gefährden.
Forschergeist trieb Alexander von Humboldt, den letzten Universalgelehrten der Geschichte, an. Für ihn gab es keine strikte Trennung der wissenschaftlichen Disziplinen. Auch Goethe lobte Humboldts Wissen und Allgegenwart: „Wohin man rührt, er ist überall zu Hause." Wie kein anderer Wissenschaftler hat Alexander von Humboldt unser Verständnis von der Natur als ein lebendiges Ganzes geprägt. Die Erkundungen und Entdeckungen dafür machte er in Lateinamerika.
Nach ihm – dem Nichtschwimmer – ist der Humboldt-Strom benannt. Städte, Berge, Pinguine oder Kakteen tragen seinen Namen. Bei allen Forschungen galt sein Augenmerk den Menschen – in Lateinamerika den unterdrückten Ureinwohnern – als Teil der Natur, die es zu hüten und zu pflegen gilt. Ihm wird von der Wissenschaft im übertragenen Sinne das Verdienst der „Erfindung der Natur" zugeschrieben.
In Ecuadors Hauptstadt Quito wird das Erbe Humboldts in fast 3.000 Metern Höhe erkennbar gepflegt. Ein ehrgeiziger Plan sieht vor, die Innenstadt in den kommenden Jahren frei von Feinstaub und Schadstoffen zu halten. Einige Atemzüge inmitten des Autoverkehrs bestätigen peinigend, wie hoch gesteckt dieses Ziel der Stadtplaner von Quito ist.
Fünfjährige Reise durch Südamerika
„Er hat viele Bücher geschrieben", sagt der Guide am Denkmal, das sie Alexander von Humboldt in ihrer Hauptstadt gesetzt haben. Und Eingeweihte wissen, dass sämtliche in Ecuador verfügbaren Originale seit Kurzem im Kulturministerium aufbewahrt werden. Fünf Jahre lang ist Humboldt ab 1802 durch das Gebiet der heutigen Staaten Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru, Kuba und Mexiko gereist, bis er über die USA in das Schloss in Berlin-Reinickendorf/Tegel zurückkehrte.
Im Alter von 27 Jahren hatte sich Humboldt den lang gehegten Traum einer ausgedehnten Forschungsreise durch Lateinamerika nach dem Tod seiner Mutter und der damit verbundenen Erbschaft erfüllen können. Nach drei Jahren intensiver Vorbereitung war seine Absicht klar: Er wollte die kulturelle und naturhistorische Eigenständigkeit der Neuen Welt erforschen und belegen, um danach in seinem bahnbrechenden, Goethe gewidmeten Buch „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen" zu beschreiben, was die Welt von Fauna und Flora im Innersten zusammenhält.
Ecuador mit seinen Vulkanen und Wäldern, den verschneiten Gipfeln und dem undurchdringlichen Dschungel, den bunten Kolibris und der anregenden Kakaobohne war ideal für sein Vorhaben, das er mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland startete. Die Anden wurden überquert und erforscht, und Humboldts Besteigung des knapp 6.300 Meter hohen Chimborazo, der damals als der höchste Berg der Welt galt, wurde für Lateinamerikas Freiheitskämpfer Simón Bolívar zur Metapher für Revolution und Unabhängigkeit. Bolívar hat seinem Berliner Freund dafür mit einem Gedicht und mit anerkennenden Worten gedankt: „Der wahre Entdecker Amerikas ist Humboldt, denn sein Werk hat unserem Volk mehr genutzt als das aller Konquistadoren."
Alexander von Humboldt hielt engen Kontakt zum dritten US-Präsidenten Thomas Jefferson, einem der US-Gründerväter, dem die Amerikaner und die Nachwelt die US-Unabhängigkeitserklärung mit jenem epochalen Satz von der Würde und der Unantastbarkeit jedes einzelnen Menschen verdanken. Und Humboldt war auf fremdem Boden ein unerbittlicher Streiter für die Unabhängigkeit Lateinamerikas und seiner Staaten. Daran konnte auch die ihm von Spaniens König Carlos IV. erteilte Sondergenehmigung für seine Forschungsreise nichts ändern. Mit Hartnäckigkeit forderte der Berliner Naturkundler im fernen Quito, den spanischen Konquistadoren das Monopol für Schnee (!) zu entziehen. Denn aus dem Schnee der Anden produzierten die Kolonialherren köstliche Sorbets für ihre Oberschicht.
Entschiedener Streiter für die Unabhängigkeit
Hitze, Schneestürme und tödliche Gefahren bestimmten den Alltag Humboldts in den fünf Jahren Lateinamerika. Viel ist über sein Privatleben spekuliert worden. „Sinnliche Bedürfnisse kenne ich nicht", versicherte er und schrieb dennoch Männern glühende Liebesbriefe. Theodor Fontane sprach gar von „sexuellen Uncorrectheiten". Zu keiner Zeit stand jedoch das Liebesleben des jüngeren Humboldt-Bruders im Mittelpunkt der Forschung um diesen Wissenschaftler, Schriftsteller, Philosophen und lebenslang Reisenden.
Im Jahr 2013 hat die Stiftung Preußischer Kulturbesitz die Südamerika-Tagebücher Humboldts erworben – rund 4.000 dicht beschriebene Seiten mit eigenhändigen Skizzen des Verfassers. Gemeinsam mit der Universität Potsdam sollen diese Schriften in einem Forschungsprojekt inhaltlich und materiell erschlossen werden. Was allerdings im Humboldt-Jahr 2019 an Informationen und Events über diesen letzten Universalgelehrten angekündigt ist, garantiert zunächst eher gepflegte Langeweile. Populäre und packende Details hat bislang einzig Andrea Wulf zusammengetragen – als Kind deutscher Entwicklungshelfer in Indien geboren und heute als Publizistin in London lebend. Sie macht den großen Gelehrten allgemeinverständlich in ihrem Buch „Alexander von Humboldt – und die Erfindung der Natur".
Wenn der deutsche Bundespräsident in diesen Tagen Ecuador besucht, trifft er auf ein lateinamerikanisches Land, das – anders als Mexiko, Peru, Kolumbien, Venezuela, Argentinien oder Brasilien – als politisch stabil gilt. Obwohl 1999 der US-Dollar als Landeswährung eingeführt wurde, hält sich die tatsächliche Abhängigkeit von den USA erstaunlicherweise in Grenzen. Offenbar liegt das an dem sozialistisch orientierten Ex-Präsidenten Rafael Correa und an seinem Nachfolger, dem 65-jährigen Lenin Moreno (davor Vizepräsident), der seit April 2017 das Präsidentenamt bekleidet. Moreno ist nach einem Raubüberfall 1998 an den Rollstuhl gefesselt.
Die Wünsche, die vor der Ankunft von Steinmeier in der Hauptstadt Quito an das EU-Mitglied Deutschland gerichtet wurden, klingen bescheiden. Neben der Unterstützung bei moderner Technologie und einer Kooperation in der chemischen Industrie äußern die offiziellen Stellen als ihr Hauptanliegen das Interesse an einer Ausstellung mit Originalen aus dem Humboldt-Nachlass und mit archäologischen Schätzen aus Ecuador in Berlin. Dem verträumten Humboldt-Schloss in Berlin-Tegel könnte dann auf diese Weise wenigstens für kurze Zeit neues Leben eingehaucht werden.