Das Berliner Ensemble zeigt „Galileo Galilei – Das Theater und die Pest" in einer sechsstündigen Aufführung. Regisseur Frank Castorf hat den Text „von und nach Brecht" der Theatertheorie von Antonin Artaud ausgesetzt. Dem Zuschauer präsentiert sich ein zwiespältiger Abend.
Ist Galilei ein Feigling? Weil er der angeblichen Irrlehre des Kopernikus abschwört, dass sich die Erde um die Sonne dreht? Er selbst sagt es im neunten Bild des Stückes so: „Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß, und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher!" Dennoch widerruft er, kaum dass er die Folterinstrumente der Inquisition sieht.
Im ersten Teil führt die Berliner Aufführung nahezu texttreu zum Grundkonflikt des Stückes. Castorf zeigt Brechts „Galilei" zunächst als ein „Denkspiel" („Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse." (zweites Bild). Brecht hat sich einerseits der historischen Figur des Galilei angenähert, indem er seine Freude am Entdecken, sein wissenschaftliches Forschen, seine Zweifel an den scheinbar unumstößlichen Wahrheiten zeigt. Die moderne Wissenschaft beginnt mit dem venezianischen Mathematiker.
Brecht arbeitete 20 Jahre an dem Stück
Andererseits lässt er ihn die Frage nach der Verantwortung der Wissenschaft stellen, und das von Bearbeitung zu Bearbeitung dringlicher. Schon in der Fassung von 1936 stellt Galilei in seinem großen Schlussmonolog alles Forschen in Frage: „Ihr mögt mit der Zeit alles entdecken, was es zu entdecken gibt, und euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschritt von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei beantwortet werden könnte." (14. Bild)
Brecht hat 20 Jahre an dem Stück gearbeitet. Er hat in dieser Zeit die Entwicklung der Atombombe erlebt, die Stalinschen Schauprozesse und die Enthüllungen Nikita Chruschtschows, die ihn schwer erschütterten. Er war mit der industriellen Vernichtung von Menschen im Holocaust konfrontiert, und er musste sich nach dem 17. Juni 1953 fragen, ob der Marxismus-Leninismus nicht doch die Menschen dogmatisch unter der Knute einer Zentralgewalt, der Partei, versklavt. Das hat ihm den Glauben an den Fortschritt geraubt, die Aufklärung zeigte ihre dunkle Seite, sie erweist sich – wie Theodor Adorno schreibt – als „dialektisch". 1956 begann er das Stück noch einmal in Ostberlin zu inszenieren, aber er schaffte es nicht mehr, sein krankes Herz spielte nicht mehr mit. Brecht starb noch vor der Premiere im August 1956.
Ethik-Kommissionen versuchen heute, wissenschaftlicher Forschung Grenzen zu setzen, wie beim Verbot der Verwendung von Embryonen. Doch was ist, wenn andere Länder ohne Rücksicht auf moralische Bedenken vorpreschen und sich Vorteile verschaffen? Nützen Denkverbote etwas? Die dunkle Seite des Fortschritts wird im Stück durch die Pest verkörpert. Castorf lehnt sich im zweiten Teil der Aufführung an Antonin Artaud an, den französischen Theatermacher der 20er- und 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Nach seiner Auffassung ist das Theater kein „Denkraum", sondern es treibt eine latent vorhandene Unordnung hervor, wie die Pest es tut, wenn sie die Gesellschaft befällt („Das Theater und die Pest", 1933). Artaud: „Wenn das wesentliche Theater wie die Pest ist, so nicht deshalb, weil es ansteckend wirkt, sondern weil es wie die Pest die Offenbarung, die Herausstellung, das Hervorbrechen einer latenten Tiefenschicht an Grausamkeit bedeutet, durch die sich in einem Einzelnen oder in einem ganzen Volk alle perversen Möglichkeiten des Geistes lokalisieren."
Man braucht nicht die Pest zu beschwören, um zu entdecken, zu welchen perversen Möglichkeiten der Geist fähig ist: Die Gentechnik, die es bis zum Klonen von Menschen treibt, zeigt es, die Künstliche Intelligenz, die neue unmenschliche Waffensysteme antreibt, das Internet, das mit den sozialen Medien ein Höllentor von Hass, Verachtung und Mobbing aufschloss.
Castorf interessiert das nicht: In seinem „Galilei" bricht die Pest wirklich aus. Die Schauspielerinnen beißen sich gegenseitig rottriefende Beulen vom Körper. Es wird gebellt, gekreischt, gefaucht. Das Ensemble tut im zweiten Teil sein möglichstes, um das Theater der Grausamkeit auf die Bühne zu stellen. Stellt sich Brecht ein Theater vor, das ohne Wunschbilder und Illusionen („Glotzt nicht so romantisch!") auskommt und den Zuschauer aktiviert und belehrt, so bringt Artaud den Begriff der Heilung, die Katharsis, ins Spiel, die die Menschen dazu bringt, „sich zu sehen, wie sie sind,…(und) die Lüge, die Schwäche, die Niedrigkeit, die Heuchelei aufdeckt" (Artaud).
Eine „Kraft", die nichts Triumphierendes hat
Doch die beiden Teile dieses Theaterabends – das Vergnügen des Denkens und Entdeckens einerseits und die grausame Tatsache, dass alles umgesetzt wird, was gedacht wird, andererseits – passen in der Castorfschen Inszenierung nicht zusammen. Die beiden Teile ignorieren einander. Das Stück gerät aus den Fugen, die Deklamation der theoretischen Texte Artauds überfordern die Zuschauer. Einzig Jürgen Holtz, der den Galilei verkörpert, ficht das nicht an. Schwer sitzt er auf seinem Stuhl, nackt und frisch gewaschen wie ein Baby. Kaum auf der Bühne zieht er seine schwarze Büßer-Kutte über den Kopf, lässt sich mit Wasser übergießen und präsentiert seinen 86 Jahre alten, zerfurchten und verbeulten Körper. Holtz gibt Galilei eine „Kraft, die nichts Triumphierendes hat und deswegen umso überzeugender wirkt", ihm glaubt man „vom ersten Augenblick, dass er weiß, wie die Dinge auf der Erde laufen", so die Kritik der „Süddeutschen Zeitung". Jeder Satz ist mit Bedacht gesprochen, auch die Verzögerungen stören nicht, Holtz lässt sich Zeit, unwichtig, dass er immer wieder auf die Souffleuse zurückkommen muss.
In einem Interview mit der „Berliner Zeitung" kommt Holtz selbst noch einmal auf den Kern des Stückes zurück: „Das sind zwei Dinge: Das eine ist die Neugierde, die Entdeckerfreude. Das andere ist die Frage, wie die Gesellschaft, wie der Staat als der Organisator der Gesellschaft in der Lage ist, das Wissensstreben erstens nach allen Kräften zu unterstützen und zweitens für die Gesellschaft etwas daraus zu machen. Das ist nicht die Angelegenheit derer, die es entdecken. Das ist erst der zweite Schritt. Ich kann kein Verbot vor die Entdeckung setzen. Wer weiß, ob es Herrschaften gibt, die aus dem Wissen über die Kommunikationsweise der Fledermäuse eine Bombe für einen Cyberangriff machen. Man käme aus dem Erteilen von Denkverboten gar nicht mehr heraus."
Und sie bewegt sich doch! – Ein Satz, den Galilei nie gesagt hat. Aber er zeigt, dass es Denkverbote nicht geben kann. Es kann nur um die Frage gehen, was aus den Entdeckungen gemacht wird. Und die muss immer neu gestellt werden.