Trotz medienwirksamer Attacken und Begegnungen: Auf Safari ist die Sichtung eines Tigers Glückssache. Was nach dem Trip durch den Dschungel im Corbett-Nationalpark in Indien bleibt, ist in jedem Fall ein gutes Gefühl.
Er habe nur spielen wollen, sagte der Guide. Als handele es sich um einen Schoßhund. Tatsächlich versetzte Choti Madu die Touristen in Angst und Schrecken, wie ein durchs Internet jagendes Handy-Video zeigt. Der Tiger hetzte dem offenen Geländewagen hinterher, mit dem die Gäste gerade auf Safari im Tadoba-Nationalpark in Zentralindien waren. Verletzt wurde niemand. Hätte die Großkatze angreifen wollen, sie hätte den Wagen ohne Mühe entern können.
Tigerattacken sind selten. Gewöhnlich greifen die Tiere nur an, wenn sie sich bedroht fühlen. Und so klingen Salims Worte auch ein bisschen reißerisch: „Der Tiger frisst alles, was er bekommt", meint der Touristenführer, mit dem wir uns ebenfalls in einem alten, klapprigen und offenen Maruti-Geländewagen auf den Weg gemacht haben – durch Indiens ältesten Nationalpark am Rande des Himalaya im Bundesstaat Uttarakhand, der 1935 von dem Jäger und Naturschützer Jim Corbett gegründet wurde. Als Jäger wurde der gebürtige Inder und Oberst bei der British Indian Army zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Gegend gerufen, um aggressive Tiger und Leoparden zu erlegen, die angeblich Hunderte Menschenleben auf dem Gewissen hätten. Diesem Auftrag kam er nach, doch bald begann er, die scheuen Großkatzen zu filmen. Corbett entwickelte sich zum Naturschützer.
Tiger markieren ihr Revier mit Kratzspuren in Bäumen
Auch Salim beruhigt seine Gäste: Gegenüber Menschen sei der Tiger scheu. Da hallt durch die Senke ein Bellen. Hunde? „Nein", meint der Guide und lacht. „Das ist ein bellendes Reh. Es ist der perfekte Alarm. Wenn das Reh bellt, dann muss sich der Tiger hier irgendwo herumtreiben." Der Touristenführer ist aufgestanden und spitzt die Ohren. Außer Vogelgezwitscher und Geschnarre ist nichts zu hören. Nach Minuten des kontemplativen Wartens schmeißt Salim den Motor wieder an. Fehlalarm. Die Makaken am Wegesrand sind ihm keine Erwähnung wert. Affen sind in Indien so gewöhnlich wie streunende Katzen in Griechenland. Aber im Park leben auch Elefanten, Leoparden, Krokodile, Lippenbären und die Königskobra.
Doch unangefochtener König ist – in Ermangelung von Löwen – der Tiger. 164 der Bengal- oder auch tatsächlich Königstiger genannten Großkatzen sollen in dem knapp 1.300 Quadratkilometer großen Distrikt im indischen Norden nahe der Grenze zu Nepal leben, weltweit sollen noch rund 2.500 Exemplare des indischen Wappentieres existieren, das als gefährdete Art auf der Roten Liste steht. Nach Angaben des Guides ist die Population im Tiger Reserve indes wieder gewachsen.
Agam aus Mumbai, der mit seiner frisch Vermählten auf Hochzeitsreise ist und als Naturforscher an einem Projekt mitgearbeitet hat, im Rahmen dessen die Tiger erfasst wurden, sagt: „Der Park ist einer der besten Orte in Indien, um einmal einen Tiger zu Gesicht zu bekommen – neben dem Kanha-Park in Zentralindien."
Das Beobachten der wilden Tiere ist beschwerlich im Dschungel. Die Sicht ist nicht mit den Bedingungen in den weitläufigen Savannen Afrikas zu vergleichen. An einem dicken Baum hat eine der gestreiften Miezen tiefe Kratzspuren hinterlassen. „Damit markiert der Tiger sein Revier und schärft nebenbei die Krallen", erklärt Salim, als er mit dem Geländewagen kurz wieder Halt macht. Das Alter der Furchen datiert der Guide auf „heute morgen… oder gestern."
Am Ramganga-Fluss, der sich als Lebensader durch den Park zieht, wird eine kurze Rast eingelegt. In dunstiger Entfernung hüpft eine Affenfamilie von Stein zu Stein. Bei der Weiterfahrt entdeckt Salim im Unterholz eine gerissene Antilope. „Die lag gestern noch nicht da." „Corbett ist ein fantastisches Vogelbeobachtungsgebiet", lenkt Agam von dem Wunsch der zahlenden Gäste ab, endlich einen leibhaftigen Tiger zu sehen. Der Naturforscher hat seine Kamera gezückt und hält auf einen Bankiva-Hahn, den mutmaßlichen Urahn des domestizierten Huhns. „Er ist der Playboy des Vogelreichs", sagt er und drückt den Auslöser. Seine Frau schweigt die ganze Zeit über. Manchmal habe der Hahn vier Weibchen gleichzeitig, die er mit seinem farbenfrohen Federkleid bezirze, sagt Agam. Insgesamt seien 540 der 1.400 Vogelarten Indiens in Park vertreten.
Auf der Tour zeigen sich Adler, Nashornvögel und klitzekleine Honigsauger. Ein Pfau schlägt im hohen Gras ein Rad. „Einen Tiger sollte man spätestens bei der dritten Jeep-Tour sichten", meint Agam, der mittlerweile die Rolle als zweiter Guide verinnerlicht hat. Doch Salim scheint nichts dagegen zu haben.
Früher lebten hier mehr Tiger als Menschen
Die Wahrscheinlichkeit, eine der Großkatzen zu sehen, kann auf dem Rücken eines Elefanten buchstäblich erhöht werden. In der Ferne stapft einer der berittenen Dickhäuter durch das Gras. Vom steinigen Weg, den die insgesamt 150 Geländewagen des Parks nie verlassen, kommt Neid auf. Allerdings gilt Elefantenreiten unter Tierschützern als verpönt, die Tiere litten bei dieser Art der Domestizierung stark. Agam hebt plötzlich die Hand und sagt etwas auf Hindi. Salim tritt aufs Gas, biegt rechts ab und stellt den Motor ab. Doch was sich dann über den Weg tastet ist ein junger Pferdehirsch mit aufgestelltem Schwanz – wieder so ein Alarmzeichen. Immerhin eines, das außer den Naturexperten niemand vernommen hat, was die Sache spannender macht. Doch wieder ein Fehlalarm, denken sich die Schaulustigen im Wagen auch.
Auf dem Rückweg zum Hotel wirken die Auslagen der Souvenirstände an der Zufahrtsstraße wie purer Spott: Stofftieradaptionen, in Gips gegossene Tatzenabdrücke, T-Shirts und Bücher von Jim Corbett über die „Menschenfresser" liegen massenweise zum Verkauf aus. Aber wenn der Tiger so scheu ist – wie kann es sein, dass er noch vor 100 Jahren angeblich so viele Menschen tötete?
Der Chef-Naturalist des „Corbett Hideaway Hotels" hat eine Erklärung: Damals lebten die Menschen noch in kleinen Siedlungen inmitten der Wildnis – damit waren Mensch-Tier-Begegnungen häufiger und das Risiko höher, dass die Großkatze sich mitunter bedroht fühlte. Und damals gab es in Nordindien mehr Tiger als Menschen. Das ist im Corbett-Nationalpark, der mit einem angrenzenden Schutzgebiet das Corbett-Tiger-Reserve bildet, auch heute noch so – trotz weit kleinerer Population als damals. Für Touristen ist er zur Monsun-Saison sogar für ein halbes Jahr größtenteils gesperrt. So gibt es für Beobachtungszwecke in Indien zwar bessere Parks, doch laufen dort die an Menschen gewöhnte Tiere auf den Wegen herum – so wie neulich im Tadoba-Nationalpark.