Hannover 96 vertraut im Kampf gegen den Abstieg auf einen Retter, der zuvor fast elf Jahre nicht in der Bundesliga gearbeitet hat. Doch Thomas Doll, der vor allem mit einer skurrilen Pressekonferenz in Erinnerung geblieben ist, will es allen beweisen.
Als Thomas Doll im Mai 2008 bei Borussia Dortmund gehen musste, titelte der „Kicker": „Dolli, basta!" Wahrscheinlich wussten sie beim Fachblatt selbst nicht, wie recht sie damals mit ihrer Schlagzeile haben würden. Denn es dauerte fast elf Jahre, bis Doll als Trainer in die Fußball-Bundesliga zurückkehrte. Erst Hannover 96 verpflichtete ihn nun in höchster Abstiegs-Not.
Dabei hatte die Trainer-Karriere des Thomas Doll verheißungsvoll begonnen. Im Oktober 2004, mit gerade einmal 38, hatte er als Nachfolger von Klaus Toppmöller die Profi-Mannschaft des Hamburger SV übernommen. Er rettete den auf dem letzten Tabellenplatz stehenden HSV und führte ihn sogar in die Spitzengruppe der Liga, später in die Europa League und Champions League. Weswegen er für den „Kicker" 2005 der „Mann des Jahres" war. Im Februar 2007 wurde er in Hamburg nach dem erneuten Absturz in die Abstiegszone entlassen und heuerte sechs Wochen später in Dortmund an. Auch den BVB rettete er vor dem Abstieg. In der darauffolgenden Saison zogen die Dortmunder zwar ins Pokalfinale ein, beendeten die Saison aber als 13. hinter Bochum und Karlsruhe. Für „Dolli" war danach basta, der BVB startete unter dessen Nachfolger Jürgen Klopp durch, und Doll bekam in der Bundesliga ewig keine Chance mehr.
Vielleicht war daran auch die Pressekonferenz vom 23. April 2008 schuld. Doll spürte kurz vor dem Saison-Finale in Dortmund den Gegenwind und wollte sich mit einem denkwürdigen Auftritt Respekt verschaffen. Doch der Schuss ging nach hinten los. Medienkritik war für ihn „alles Blabla" und „respektlos ohne Ende". Das Ganze gipfelte in dem inzwischen schon legendären Zitat: „Da lach’ ich mir doch den Arsch ab." Auf die Frage, ob er diese Pressekonferenz noch einmal so halten würde, sagte er ein Jahr später der „Bild"-Zeitung: „Auf gar keinen Fall. Heute würde ich viel souveräner sein. Die Rede hat mir damals vielleicht für ein paar Minuten Luft verschafft – aber im Endeffekt hat sie mir weitaus mehr geschadet." Er habe im Endeffekt „zu viel Angriffsflächen geboten". Zudem sei er „mit meinem Trainer-Image zu sorglos umgegangen. Es sind Dinge gelaufen, die ich mir in meiner Position als Cheftrainer nicht erlauben durfte. Es ist fatal, regelmäßig die Diskothek zu besuchen wie seine Spieler. Oder das gleiche Auto zu fahren wie sie. Das sorgt nur für unnötigen Gesprächsstoff." Inzwischen, so Doll damals, 2009, sei er „erwachsen geworden".
Die Tür zur Bundesliga war lange zu
Dennoch war die Tür in der Bundesliga erst einmal zu. Nach einem Jahr ohne Verein ging er zu Gençlerbirliği Ankara in die Türkei, wurde aber nach 16 Monaten entlassen. Neun Monate später heuerte er bei Al-Hilal in Saudi-Arabien an und trat nach nur sieben Monaten zurück. Fast zwei Jahre blieb er daraufhin komplett ohne Verein, seine Trainer-Karriere schien fast schon beendet. Doch dann kam im Dezember 2013 Ferencváros Budapest. Ein starkes Saisonfinale im ersten Jahr, Pokalsieg im zweiten, das Double im dritten und erneut der Pokalsieg im vierten folgten. Im fünften trennte man sich dann „im beiderseitigen Einvernehmen" als Tabellenführer.
Seine Erfolge dort waren eine Bewerbung für ein Bundesliga-Comeback. Zumal Doll das alles unter schwierigen Umständen geschafft hatte. Er habe in einer „extrem emotionalen Zeit" dort angefangen, berichtete der deutsche Ex-Spieler Philipp Bönig der Tageszeitung „Die Welt": „Ein Spieler der Mannschaft war verstorben, bevor Thomas Doll zu uns kam". Dem Profi Akeem Adams war nach einem Herzinfarkt im Training zunächst ein Bein amputiert worden, drei Monate später verstarb er an einem Schlaganfall. Dolls Erfolg habe darauf basiert, dass er „immer noch ein Stück weit wie ein Spieler gedacht" habe, berichtete Bönig: „Er ist ein Spielercoach, er weiß, wie wir ticken."
Nachdem er stets betont hatte, in Budapest sein Glück gefunden zu haben, wollte Doll nach dem Ende seiner Zeit in Ungarn unbedingt zurück in die Bundesliga. Deshalb nahm er auch die durchaus schwierige Aufgabe in Hannover an. Der Verein liegt auf einem direkten Abstiegsplatz und ist voller Brandherde. Präsident Martin Kind führt seit Jahren einen in Deutschland ziemlich einsamen Kampf gegen die Abschaffung der 50+1-Regel und ist für viele 96-Fans zum Feindbild geworden. Auch in den Gremien bildet sich eine immer stärker werdende Gegenfraktion. Manager Horst Heldt hatte in der vergangenen Saison offen mit einem Abgang nach Köln oder Wolfsburg kokettiert.
Und die Entlassung von Dolls Vorgänger André Breitenreiter war ein unwürdiges Schauspiel. Nachdem dieser im Winter neue Spieler gefordert hatte, hatte ihn Kind zurechtgewiesen, dass die Mannschaft doch von ihm und Heldt zusammengestellt worden sei. Nach der 0:1-Heimniederlage gegen Werder Bremen – dem vierten Heimspiel in Folge ohne Punkt und Tor – sickerte durch, dass Breitenreiters Entlassung schon beschlossen sei. Letztlich bekam er eine offizielle Schonfrist für ein weiteres Spiel, doch jeder wusste: Eine echte Chance war das nicht. Schon in der Woche zum nächsten Spiel gab es Mutmaßungen, man wolle dem Nachfolger nicht ein Spiel in Dortmund zum Auftakt antun. Nachdem es in Doll auch noch ein Ex-Dortmunder wurde, verstärkten sich diese noch. „Ich bin enttäuscht! Ich hätte mir gewünscht, dass man offen mit mir drüber spricht", sagte Breitenreiter denn auch schon auf der Pressekonferenz vor der letztlichen 1:5-Niederlage. Er habe sich Rückendeckung von Heldt und Kind gewünscht: „Das ist nicht erfolgt. Schade! Die Mannschaft ist auch im Ungewissen, dabei braucht sie eine klare Führung."
Schwieriges Umfeld in Hannover
Doch für die 96-Fans zählt im Endeffekt vor allem eines: Ist Doll der Richtige, um Hannover noch zu retten? Bei seiner Vorstellung und in der Vorbereitung auf seine Premiere gegen Leipzig wirkte der Vize-Europameister von 1992 motiviert bis in die Haarspitzen. Allerdings reihte sich auch Phrase an Phrase. Man müsse „die Leichtigkeit zurückbringen", sagte er zum Beispiel. Und wolle „den Bock umstoßen". „Spiegel Online" stellte deshalb fest, Doll wirke „wie aus der Zeit gefallen. Wie ein Trainer aus der fußballerischen Vormoderne. Er ist ein Mann für die einfachen Botschaften, während der Trend zur Eloquenz geht wie bei Nagelsmann, Tedesco oder Freiburgs Christian Streich." Die „Neue Presse" aus Hannover schrieb nach den ersten Trainingseinheiten, Doll habe im Training bisweilen so wild gestikuliert „wie ein italienischer Verkehrspolizist".
Doch umso härter traf ihn die 0:3-Pleite zum Auftakt gegen Leipzig, bei der sein Team von der Aufbruchstimmung, die Doll verbreiten wollte, aber auch rein gar nichts auf den Platz übertrug. Entsprechend frustriert klang denn auch der neue Trainer. Hatte er vor dem Spiel noch im Brustton der Überzeugung erklärt, die Mannschaft habe „genug Qualität, da herauszukommen", klang das nach seinen ersten 90 Minuten an der Seitenlinie schon komplett anders. „Ich habe während des Spiels gedacht: Wann springt endlich der Funke über? Da musste ich ein paar Mal schlucken. Das ist zu wenig", sagte er: „Wir müssen zusehen, dass da ein bisschen mehr Power reinkommt. Da muss Alarm her. Da muss jetzt Zug rein. Es muss ein kalter Nordwind in die Trainingseinheiten rein." Immerhin: Am Samstag gab es gegen das Schlusslicht Nürnberg einen Heimsieg. Doch die Franken spielten, dabei 80 Minuten in Unterzahl: „Wir wissen das einzuordnen", sagt Doll. Seine Aussage, man müsse auch am Fitnessstand arbeiten, werteten viele als direkten Angriff auf Vorgänger Breitenreiter. Doch Doll hat schon nach zwei Spielen gesehen, welche Mammut-Aufgabe er bei den Niedersachsen übernommen hat. Und dabei geht es um viel mehr als nur um den Klassenverbleib. Kind kann seine Visionen, wenn überhaupt, nur in der Bundesliga wirklich umsetzen: „Ein Abstieg ist noch viel schlimmer, als man es sich jetzt vorstellt." Und für Doll geht es beim Comeback nach elf Jahren gleich um die letzte Chance in Deutschland. Sein Vertrag gilt zwar für die zweite Liga. Doch auch Doll weiß: Wenn es nicht funktioniert, ist das alles nur Blabla.