Kleine Fehltritte im Alltag machen das Leben erst lebenswert
Offen gestanden bin ich behütet aufgewachsen. Immer waren es die Anderen, die Schlimmes erlebten und so beinah den Weg alles Irdischen gingen. Von den denkbar schlimmsten Unfällen hörte oder las ich immer nur: Ein Lkw-Fahrer fiel in Sekundenschlaf und löste eine Massenkarambolage aus. Eine Frau schwamm mit Schnorchel im Roten Meer und wurde dabei von einem Hai attackiert. In der Hose eines Mannes explodierte eine E-Zigarette mit der Folge, dass seine Hoden verbrannten.
Doch auch schon kleine Ereignisse können einen aus der gewohnten Bahn werfen. Im Supermarkt kommt es manchmal zu ungeahnten Begegnungen. Letztens parkte ich einen Einkaufswagen gegenüber vom Kühlregal und lief ein Stück weiter in Richtung Käseabteilung. Wie in Trance lief ich zu einem Einkaufswagen, der neben der Tiefkühltruhe parkte und wollte gerade den abgepackten Käse und die Schinkenwürfel hineinlegen, als sich eine Frau mittleren Alters näherte und in freundlich-bestimmtem Ton sagte: „Das ist meiner."
„Stimmt, habe ich auch gerade gemerkt", murmelte ich daraufhin leicht verschämt. Hatte eine höhere Macht von mir Besitz ergriffen und mich zu diesem damenlosen Einkaufswagen gelenkt und mir befohlen „Lege Käse und Schinkenwürfel in den nächstbesten Einkaufswagen"? Oder schlimmer noch: War das ein Black-out, also ein Vorbote für eine frühe Form der Demenz? Wie auch immer.
Diese versehentliche Fast-Inbesitznahme eines fremden Einkaufswagens eröffnete mir im Nachhinein völlig neue Möglichkeiten des Einkaufens. Wie wäre es, unsympathischen Personen – zum Beispiel dem nervigen ordnungsvernarrten Nachbarn in Wohnortnähe – das nächste Mal im Supermarkt aufzulauern und ihm einige hochpreisige Produkte, die er sich niemals kaufen würde, in den Einkaufskorb zu legen? Schade nur, dass vermutlich spätestens an der Kasse der gemeine Streich auffliegen würde.
Sogar im Urlaub bleiben einem keine Peinlichkeiten erspart. Die Autorin Birgit Vanderbeke kam einmal zu einer etwas anderen Einsicht der schönsten Zeit im Jahr. Die Urlaubszeit sei verschärfter Überlebenskampf, schrieb sie sinngemäß. Was für eine kluge, zutreffende Erkenntnis! Im Spätsommer machte ich den Jahresurlaub auf einem Campingplatz an den südlichen Ausläufern des Gardasees. Im Bad unseres zugegebenermaßen etwas engen Caravans hatte eine Reinigungskraft verschiedene Gratis-Kosmetikproben schön ordentlich auf dem Bord oberhalb des Waschbeckens aufgereiht. Ich wollte gerade eine von den Proben testen, da bereute ich es schon im nächsten Moment. Denn der Deckel eines Duschgel-Fläschchens fiel ausgerechnet in den Ausguss.
Diese Tatsache allein wäre mir keine Zeile wert, wenn nicht der Verschluss haargenau die Größe der Ausgussöffnung gehabt hätte. In verbissener Do-it-yourself-Manier versuchte ich mit Büroklammerdraht und Plastiklöffel, das Ding dort herauszuholen, wo es reingefallen war. Alle Versuche waren vergebens. Da musste ein Handwerker ran. Nachdem ich an der Rezeption das Problem mit dem verstopften Ausguss geschildert hatte, nahte bald darauf die Rettung. Gleich zwei Mitarbeiter des Campingplatzes, die wohl eine Art Hausmeisterrolle hatten, nahmen sich des verfluchten Dings an.
Zu meiner Erleichterung brauchte ich ihnen nicht abermals das Deckel-Malheur zu schildern. Die zwei Italiener unterhielten sich während der Arbeit. Selbst mit rudimentären Italienischkenntnissen verstand ich, dass der kräftigere Typ von beiden mir ein unverhofftes Alibi verschaffte: Er vermutete, dass mein Sohn schuld daran sei, dass der Deckel den Ausguss verstopfte.
Was wäre das Leben ohne diese Fehltritte und Fehlgriffe im Alltag? Um einiges ärmer, finde ich. Denn das Gefühl, dass gerade alles aus dem Ruder zu laufen scheint, aber alles letztlich halb so schlimm ist wie es scheint, macht das Leben lebenswert. Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Mir geht es nicht darum, die eigenen Pleiten-Pech-und-Pannen-Episoden schönzureden. Vielmehr will ich sagen, dass auch das Unkalkulierbare im Alltag Sinn ergibt. Ist der Peinlichkeit- und Schamfaktor in der jeweiligen Situation noch so hoch, eines ist gewiss: Man kann hinterher einen Schwank aus dem ach so grauen Alltag erzählen. Allzu Peinliches kann man ja immer noch verschweigen.