Um die 70 Millionen Dokumente hat Rui Pinto alias „John" als Informant an die Medien weitergegeben. Sie wurden bekannt als Football Leaks. Nun wurde Pinto festgenommen.
Der wohl bekannteste Whistleblower der Welt ist Edward Snowden. Der Amerikaner deckte die geheimen Machenschaften der US-Geheimdienste auf und gab sie an die Öffentlichkeit weiter. Snowden bekam nun in puncto Bekanntheitsgrad Gesellschaft von Rui Pinto. Für großes Aufsehen in der Fußballwelt und europaweite Ermittlungsverfahren hatte der 30-Jährige gesorgt, als er mehr als 70 Millionen vertrauliche Dokumente an den „Spiegel" weitergab. Das Nachrichtenmagazin teilte sie mit dem NDR und dem Recherche-Netzwerk European Investigative Collaborations. Mittlerweile wurde der Kopf dieser Plattform gefasst. Und er fürchtet um sein Leben. Der Mann, den die portugiesische Staatsgewalt um jeden Preis fassen will, wurde längst aus seiner Haftzelle entlassen. Zumindest vorerst. Auf einem aktuellen Foto ist er mit seinen Anwälten zu sehen, beim Abendessen. Die Weingläser fast leer, im Hintergrund läuft ein Spiel aus der Welt, die „John" – wie Rui Pinto sich nannte – erschütterte.
Mitte Januar war Pinto in Budapest gefasst worden, nun steht er mit Fußfessel unter Hausarrest. So lange, bis über seine Auslieferung nach Portugal entschieden wurde. Der 30-Jährige und seine Rechtsvertreter haben einen wichtigen Entscheid gefällt – Pinto outet sich heute selbst als Whistleblower der Enthüllungsplattform Football Leaks: „Rui Pinto ist John", sagt sein Anwalt William Bourdon im Interview mit dem „Spiegel" und dem Recherche-Netz European Investigative Collaborations (EIC). „John" war das Pseudonym unter dem Pinto aufgetreten ist. Nur „Spiegel"-Journalist Rafael Buschmann hatte direkten Kontakt zum Whistleblower.
Mitte Januar wurde Rui Pinto in Budapest gefasst
Die Enthüllungen erschütterten Ende 2015 das Fußballgeschäft erdrutschartig. Topspieler wurden als Steuertrickser enttarnt, Topclubs sahen Fake-Sponsoringverträge ans Licht gezerrt, bei Paris Saint-Germain wurde ein rassistisches Scouting-System bekannt, für das sich der Verein umgehend entschuldigte. In mehreren Ländern sind wegen Football Leaks Strafverfahren angelaufen, so auch in der Schweiz: Ein außerordentlicher Staatsanwalt untersucht, ob ein Walliser Oberstaatsanwalt von Fifa-Präsident Gianni Infantino unrechtmäßige Vorteile erhalten hat. Rui Pintos Anwalt Bourdon sagt, er stehe mit dem Sonderermittler Damian Graf in Kontakt. Der dementiert das auf Anfrage nicht. Auch in anderen Ländern interessieren sich Strafverfolger für das Material. Oder sie sind schon weiter. Fast gleichzeitig mit Pintos Verhaftung stand in Madrid Überfußballer Cristiano Ronaldo wegen Steuerhinterziehung vor Gericht – auch dieses Verfahren ist auf Football Leaks zurückzuführen. Ronaldo kassierte eine bedingte Gefängnisstrafe von zwei Jahren und muss dem Fiskus 18,8 Millionen Euro zahlen.
Rui Pintos Schicksal dagegen ist offen. Die portugiesischen Behörden werfen ihm Datendiebstahl und versuchte Erpressung vor. Besonders schwer wiegt die Anschuldigung, Pinto habe von einer portugiesischen Sportagentur Geld verlangt, ansonsten würde er belastende interne Dokumente publizieren. William Bourdon weist diesen Vorwurf zurück und spricht von einem „kindlichen Streich": Pinto habe testen wollen, wie weit die Agentur gehen würde. Sein Mandant habe am Ende selbst von dem Plan Abstand genommen. Geld sei nie geflossen: „Pintos Kriminalisierung ist künstlich aufgeblasen." Die Anwälte wollen sich nun auf Pintos Status als Whistleblower berufen, um seine Auslieferung zu verhindern. Außergewöhnlich ist, dass der 30-Jährige anders als frühere Whistleblower nicht Dokumente aus einer Organisation mitgenommen hat, für die er arbeitete. Er war ein Außenstehender. Ein Fußballfan. Für William Bourdon ändert das nichts: Pinto erfülle alle Bedingungen für Whistleblower, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellt habe. „Ich halte dies für einen historischen, europaweit beispiellosen Fall", sagt der Rechtsanwalt, der früher NSA-Whistleblower Edward Snowden verteidigte.
„Daraus wurde ein Dominoeffekt"
Die ungarischen Behörden beschlagnahmten bei Pinto Festplatten und Computer. Auf die Frage, ob sein Mandant die Football-Leaks-Dokumente durch einen Hack erlangte, will der Anwalt nicht antworten: „Ich kann nicht erklären, wie er an die Dokumente gekommen ist. Das einzige, was ich sagen kann, ist, dass am Anfang der Geschichte die Liebe zum Fußball stand." Diese sei von dem, was er entdeckt habe, verletzt worden. „Daraus wurde ein Dominoeffekt: Je mehr Zugang er zu Dokumenten hatte, desto empörter und angewiderter war er", sagt Bourdon.
Auf alle Fälle scheint nun in Lissabon eine Geschichte zu enden, die 2017 dort auch begonnen hatte: Damals schienen interne Mails von Benfica-Funktionären zu belegen, dass Portugals Rekordmeister Schiedsrichter und Spiele gekauft hat. Ihren Weg an die Öffentlichkeit fanden die Mails auf eher ungewöhnliche Weise – über den TV-Sender des Rivalen FC Porto. „Aus den Ermittlungen ergeben sich Verdachtsmomente, dass die direkte oder indirekte Quelle für die Mails Rui Pinto war", schrieb der „Correio da Manhã". Der FC Porto solle die Mails bei Rui Pinto gekauft haben.
Benfica wiederum ließ verlauten, dass man gerne bereit wäre, die Strafanzeige wegen versuchter Erpressung zurückzuziehen, wenn der Festgenommene offenbare, wer ihn beauftragt und/oder bezahlt habe. Der Verdacht, der mitschwingt und auch von Benfica gestreut wird: Es sei der FC Porto gewesen. Der Club war in der Vergangenheit selbst Opfer von Cyberattacken gewesen – und stand 2016 im Fokus von Football Leaks. Unter anderem wurde damals bekannt, dass der Präsidenten-Sohn Alexandre Pinto da Costa bei mindestens zwei Porto-Transfers mitkassiert hatte. Daraufhin gab es Proteste von Fans. Eine Hypothese der Ermittler: Porto habe den Hacker für sich gewonnen – und auf Benfica angesetzt.
Rui Pinto wurde aus Amerika schon Unterstützung zugesichert – von einer Organisation, die Whistleblower unterstützt. Diese wird er brauchen. „Ich fürchte, dass, wenn ich ein portugiesisches Gefängnis betrete, vor allem eines in Lissabon, ich dort nicht lebend herauskomme", sagte Pinto in einem Interview mit dem NDR, dem „Spiegel" und dem französischen Portal „Mediapart". Es gebe zwar Staatsanwälte und Richter, die ihren Job ernstnehmen. „Aber diese Fußballmafia ist überall", sagte er. „Sie wollen die Botschaft aussenden, dass sich niemand mit ihnen anlegen soll." Sich selbst sieht er derweil nicht als Kriminellen.
„Diese Fußballmafia ist überall"
„Ich bin kein Hacker", sagte Pinto. „Am Ende geht es darum, dass Whistleblower Vorgänge offenlegen, die der Gesellschaft sonst verborgen blieben: Verbrechen, Missstände, Fehlverhalten. Im besten Fall entfachen Whistleblower damit eine öffentliche Debatte und lösen Ermittlungsverfahren der Behörden aus." Er steht zudem weiter hinter seinen Ansichten. „Ich bin überzeugt davon, dass ich das Richtige getan habe", sagte Pinto. „Dafür sind und waren meine Daten hilfreich. Es ist mir gleichgültig, ob mein Lieblingsspieler oder mein Lieblingsverein, der FC Porto, betroffen sind. Ich gebe alle relevanten Daten weiter." Die Quelle der Daten behält Pinto allerdings weiterhin für sich. Er betont aber, nicht der einzige hinter den Enthüllungen zu sein. „Mit der Zeit kamen immer neue Quellen hinzu", sagte der 30-Jährige, der angibt, inzwischen vor allem mit den Behörden in Frankreich zusammenzuarbeiten: „Sie machen klar, dass sie Fälle von Korruption, Geldwäsche und Steuerhinterziehung im Fußball ernsthaft verfolgen wollen."
Wie damals Edward Snowden hat Rui Pinto oder „John" für einen Riesen-Aufschrei gesorgt. Letztendlich bleibt der Ausgang ungewiss. Gewiss ist jedoch, dass der Fußball größere Probleme hat als Pinto. Solche Machenschaften im Verborgenen werfen erneut kein gutes Licht auf den in Verruf geratenen Sport. Ob seine Vorgehensweise rechtens war, müssen andere Institutionen entscheiden. Die Wahrheit haben Millionen Fans dennoch verdient. Egal wie.