Regierungschef Pedro Sánchez hat überraschend Neuwahlen in Spanien für den 28. April angesetzt. Kurz vor den Europawahlen drohen ein Rechtsruck und Aufwind für eine weitere populistische Partei.
Im Sommer vergangenen Jahres keimte Hoffnung auf Versöhnung und Ruhe auf. Zum ersten Mal in der Geschichte der vergleichsweise jungen spanischen Demokratie war ein Misstrauensvotum im Parlament erfolgreich. Der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy stolperte über eine umfangreiche Korruptions- und Parteispendenaffäre ranghoher Politiker seiner Partido Popular (PP), der Sozialist Pedro Sánchez übernahm die Geschäfte. Im eskalierten Streit um die Selbstständigkeit Kataloniens zeigte er Gesprächsbereitschaft. Sein Haushalt schien vielen von der langen Finanzkrise und den harten Sparmaßnahmen gebeutelten Spaniern wie ein Lichtblick am Ende eines langen Tunnels: Geld gegen Kinderarmut, höhere Renten, höherer Mindestlohn. Dazu höhere Transferleistungen und Investitionen für Katalonien. Und das alles mit Rückversicherung aus Brüssel.
Zum Luftholen blieb den Spaniern indes keine Zeit. Stattdessen sind sie nun zum dritten Mal binnen weniger als vier Jahren an die Urnen gerufen. Zwei kleinere katalanische Separatisten-Parteien kündigten Sánchez die Gefolgschaft in der Haushaltsabstimmung, machten gemeinsame Sache mit der konservativ-rechten PP und den rechtsliberalen Ciudadamos. Sánchez’ sozialdemokratische PSOE und die linke Podemos standen ohne Mehrheit da. Weil Spanien „keine Zeit zu verlieren" habe, rief Sánchez umgehend die vorgezogenen Neuwahlen aus.
Das wiederum lässt in Brüssel, aber auch in Paris und Berlin die Besorgnisse so kurz vor einer Europawahl steigen, die vielen als Schicksal gilt. Als wären der ungelöste Flüchtlingsstreit, Entsolidarisierungstendenzen, ein ungewisser Brexit, ein unklarer Machtpoker direkt vor der Haustür und ein ehemals sicherer und starker Verbündeter jenseits des Atlantiks, der unter Präsident Trump eher bedrohliche Züge entwickelt, nicht genug an Herausforderungen, entwickelt sich nun auch das unter Sánchez europafreundliche Spanien in eine ungewisse Zukunft.
„Keine Zeit zu verlieren"
Gerade mal zehn Jahre ist es her, dass Spanien, um die Jahrtausendwende noch die am stärksten wachsende Volkswirtschaft in der EU, praktisch über Nacht zusammenbrach. Gleichzeitig zur globale Finanz- und Wirtschaftskrise (2008) zerplatzte die Bau- und Immobilienblase. Noch heute ragen vielerorts die Betonskelette von nie fertig gestellten Bauprojekten in Straßenzeilen, ganze Hänge sind mit Infrastruktur für Wohnungen durchzogen, wo sich bis heute kein Bauherr findet. Geschätzt drei Millionen leer stehende Wohnungen zeugen von hoffnungsloser Überhitzung der Baublase. Viele Infrastrukturprojekte waren bis 2007 EU-kofinanziert. Danach wurden Struktur- und Regionalfördermittel im Zuge der EU-Osterweiterung umgelenkt. Binnen eines Jahres schnellte die Arbeitslosigkeit insgesamt auf rund 20 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit erreichte in zwei Krisenjahren deutlich über 40 Prozent. Die Krise sorgte für Massenproteste. Die Bilder vom berühmtesten Protesttag der „Spanischen Revolution" gingen rund um die Welt. Am 15. Mai 2011 waren Spaniens öffentliche Plätze besetzt, Protestierende schlugen ihre Zelte auf der „Puerta del Sol", Madrids berühmtestem Platz, auf, richteten Suppenküchen ein. Die Arbeitslosenquote stieg weiter Richtung 30 Prozent, inzwischen war mehr als die Hälfte der Jugendlichen ohne Job und Perspektive, eine „verlorenen Generation". 2012 herrschte schlicht „Katastrophenstimmung", wie der damals regierende Rajoy einräumte, der seinem Land ein radikales Sanierungsprogramm verordnete.
Seit vier Jahren kann Spanien nun wieder mit Wachstumsraten über EU-Durchschnitt aufwarten, was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass das Land nach wie vor unter den Folgen der Krise leidet und noch nicht dort zurück ist, wo es vor der Krise stand. Wies die Statistik damals 20,4 Millionen Beschäftigte auf, liegt die Zahl heute bei knapp unter 19 Millionen. In vielen Bereichen liegen die Durchschnittsverdienste um ein Drittel unter denen vor der Krise, außerdem sind geschätzt nur etwa zehn Prozent der Neueinstellungen unbefristet. Die Bankbilanzen zeigen noch tiefe Spuren der Krise. Die spanische Notenbank gibt die Belastung toxischer Wertpapiere und unverkäuflicher Immobilien mit etwa 160 Milliarden Euro an. Einen nicht unwesentlichen Teil machen unansehnliche Apartmentblöcke an den Küsten aus, die nach Ausfall der Schuldner in Bankbesitz übergegangen sind und sich jetzt als unverkäufliche Brocken in den Bilanzen wieder finden. Dass die Regierung Sánchez eine eigene Agentur zur Krisenwarnung eingerichtet hat, zeigt, auf welch dünnem Eis die Wirtschaftserholung der vergangenen Jahre steht.
Die ungeklärte Katalonienkrise stellt Spanien vor eine Herausforderung, die im jetzt aufziehenden Wahlkampf für eine weitere Spaltung sorgt. Sánchez suchte zwar Wege, den Katalanen entgegenzukommen. Allein deren Forderung, über eine Unabhängigkeit zu verhandeln, verbietet die Verfassung. Erneut zugespitzt hat sich die Lage nach Eröffnung des Gerichtsverfahrens gegen zwölf Anführer der Unabhängigkeitsbewegung, unter anderem wegen „Rebellion". Eine „Bewährungsprobe für die Demokratie", wie Beobachter ziemlich einhellig meinen. Die Angeklagten sehen sich als Opfer eines „unfairen und politischen Prozesses". Rund 200.000 Menschen haben in Barcelona gegen den Prozess demonstriert und Freiheit für die Angeklagten gefordert.
Herausforderung für die Demokratie
Die oppositionelle konservative PP wirft Sánchez eine zu nachgiebige Haltung gegenüber den Separatisten vor. Ansonsten richtet sich der Blick des neuen PP-Chefs Pablo Casado eher gen Süden nach Andalusien. Die Wahl im Dezember in der bevölkerungsreichsten Region Spaniens galt als erster Stimmungstest für die Regierung Sánchez. Und der brachte den Sozialdemokraten in ihrer einstigen Hochburg nach fast vier Jahrzehnten an der Regierung eine deutliche Niederlage. Dafür meldete sich erstmals die rechtspopulistische Anti-Europa Partei Vox auf der großen Bühne. Mit elf Prozent erreichten die Populisten ein weitaus besseres Ergebnis als vorausgesagt. Vox-Chef Santiago Abascal kommentierte: „Die Andalusier haben Geschichte geschrieben." Für Spanien war es das erste klare Ausrufezeichen einer rechtspopulistischen Partei, deren Einordnung sich durch die Twitter-Botschaft von Marine Le Pen erkennen lässt, die „warme und herzliche Gratulation für die Freunde von Vox" kundtat. Nicht nur, dass damit erstmals Rechtspopulisten in ein spanisches Parlament einzogen. PP und Ciudadamos, die sich nur auf eine Koalition verständigt haben, ließen – einem Tabubruch gleich – ihre Minderheitsregierung von Vox unterstützten.
Etliche Kommentatoren führen das Vox-Ergebnis vor allem auf das Migrationsthema zurück. Tatsächlich hatte die Regierung Sánchez einen offeneren Kurs in der Flüchtlingsfrage gesteuert. Und Spaniens Süden bekam die Folgen der Flüchtlingspolitik der rechtspopulistischen italienischen Regierung zu spüren. Weil die ihre Häfen dicht machte, verlagerte sich ein Teil der Flüchtlingsroute nach Spanien. In der Region Malaga reagieren die Menschen darauf einerseits mit Verärgerung über mangelnde europäische Solidarität, fühlen sich mit der Herausforderung im Stich gelassen. Das ändert umgekehrt nichts an der nahezu ungebrochenen Hilfsbereitschaft gegenüber den Bootsflüchtlingen. Entscheidender für den Vox-Erfolg dürfte ihre Anti-Establishment-Kampagne gegen „korrupte Sozialisten" und „unbrauchbare Politiker" gewesen sein. Die geringe Wahlbeteiligung von unter 60 Prozent dürfte vor allem zulasten der bis dahin Dauer-Regierungspartei PSOE gegangenen sein, die zunehmend weniger Menschen überzeugte. In Andalusien blieb die PSOE trotz Verlusten zwar stärkste Kraft, nur reichte es nicht mehr zur Regierungsbildung. Ein ähnliches Schicksal könnte Sánchez Ende April drohen.