Die britische Wahrnehmung des Brexits ist eine völlig andere als in Deutschland. Unser Autor pendelt von Berufs wegen zwischen Deutschland und Großbritannien. Seine ganz persönliche Einschätzung: Die Europäische Union ist den Briten gleichgültig. Der Grund sind die britischen Medien.
Vorweg eine persönliche Bemerkung: Ich beleuchte den Brexit nun bereits seit ein paar Jahren in diversen Medien. Über Ecken kontaktierte mich 2016 zum ersten Mal eine Redaktion und meinte, ich sei doch Deutsch-Brite, verfolge die Debatte, sei Historiker und schreiberfahren. Ob ich denn nicht mal erklären könne, was sonst kein Mensch versteht? Ich versuche mich seitdem an Erklärungen, höre aber inzwischen auch über in Vollzeit arbeitende Korrespondenten vor Ort in London, dass ihnen die Erklärungen ausgehen. Es ist auch ihnen nicht mehr begreiflich, wie eine Partei wie die Konservativen, einst Symbol staatstragender Politik und der Wirtschaftsfreundlichkeit, lieber sich selbst zerlegt und das Land wirtschaftlich in den Abgrund reißt, als auch nur den geringsten Kompromiss einzugehen. Wer in Union Jacks gehüllte „Patrioten" sieht, die allen Ernstes sagen, „wir" hätten schließlich auch zwei Weltkriege gewonnen, und überhaupt, der britische Kampfgeist werde es der Welt schon zeigen, verspürt leicht innere Müdigkeit. Oder den Wunsch, analog zur Netto-Werbung zu rufen: „Dann geh doch!"
Was in dieser ganzen Debatte jedoch so gut wie nie eine Rolle im Vereinigten Königreich zu spielen scheint, das ist die europäische Wahrnehmung der britischen Debatte. Wer britische Zeitungen liest, selbst EU-freundliche wie den „Independent", gewinnt den Eindruck, dass nach britischer Lesart eine europäische Wahrnehmung Großbritanniens entweder überhaupt nicht existiert oder den meisten Briten gleichgültig ist. Eine moderne Legende besagt, dass es einmal eine Überschrift der britischen „Times" gegeben habe: „Rekordnebel auf dem Kanal – Kontinent isoliert!" Es handelt sich um eine Erfindung, aber dafür um eine ausgezeichnete, denn sie bringt die Haltung einiger Briten, die ihr Land nach wie vor für den Nabel der Welt halten, in überspitzter Form zum Ausdruck.
Nicht erfunden hingegen sind vergangene Ausfälle des britischen Revolverblatts „The Sun". Es titelte am 1. November 1990: „Schieb’s dir hinten rein, Delors!" Dazu war eine im britischen Raum unmissverständliche Zweifinger-Geste zu sehen. Die „Sun" forderte ihre Leser auf, pünktlich zu Mittag dem „Froggie", dem französischen EU-Kommissionspräsident Jacques Delors, mit zwei Fingern zu zeigen, wohin er seine Pläne für vertiefte europäische Integration und eine einheitliche Währung schieben könne.
Wer denkt, damit sei bereits ein nicht zu unterbietender Tiefpunkt an Hetze erreicht, die auch nicht mehr als Kampagnenjournalismus durchgeht, der wurde am 21. September 2018 – wieder durch die „Sun" – eines Besseren belehrt. Nachdem Emmanuel Macron und Donald Tusk sich kritisch über Mays Vorgehen bei den Verhandlungen geäußert hatten, machte die „Sun" auf mit „EU dreckige Ratten! Euro-Gangster überfallen May aus dem Hinterhalt". Daneben waren Macron und Tusk als Gangster mit Maschinengewehren zu sehen. Das Bild erinnerte stark an das von den Nazis modifizierte Bild Winston Churchills mit einem Tommy-Maschinengewehr, das ihn bewusst aussehen ließ wie einen Gangster aus einem Hollywood-Film. Die „dreckigen Ratten" wiederum erinnerten an die finstersten und widerwärtigsten Kapitel der antisemitischen NS-Propaganda.
Hetze und kulturelle Unterschiede
Man könnte sich fragen, wenn die Macher solcher Medien schon kein letzter Rest Anstand bremst, ob sie sich denn nicht fragen, wie solch blanke Hetze in der EU ankommt. Die Antwort auf diese Frage ist in beiden Fällen beunruhigend, denn das vollkommene Ignorieren der europäischen Wahrnehmung ist nicht sehr viel besser als deren bewusste Inkaufnahme. Tatsächlich dürfte vor allem Gleichgültigkeit eine Rolle spielen. „Sehen die Europäer das? Ja, und es ist uns egal, und wir freuen uns, denn Aufwiegeln ist unser Geschäft." Ungefähr so dürfte der Gedankengang der zuständigen Redakteure gewesen sein.
Während europäische Medien vielfach über den Brexit berichten, sind die europäischen Reaktionen auf die mitunter schrillen Töne aus Großbritannien selten Thema. Auch in den Unterhausdebatten ist selten die Rede von der europäischen Wahrnehmung. Selbst proeuropäische Briten und Politiker reagieren erstaunt auf die Frage, ob sie sich denn schon einmal Gedanken gemacht hätten, dass ein mögliches Austrittsabkommen nicht nur das Parlament in Westminster, sondern die Parlamente der verbleibenden 27 EU-Staaten plus das EU-Parlament passieren müsse. Ich habe diese Frage schon oft gestellt – meist sehe ich daraufhin nur hochgezogene Augenbrauen und viele Fragezeichen. „Nein, wussten wir nicht," ist noch die ehrlichste Antwort.
In einer etwas mysteriösen Mischung aus der oben beschriebenen Dummdreistigkeit sowie kindlicher Naivität setzen Brexiteers und rechte Medien dann stets auf Deutschland. Einerseits scheuen sie nicht davor zurück, die EU als einen Club, von Deutschland dominiert, zum Schaden aller zu erklären. Zugleich habe ich auch von britischen Journalisten schon oft gehört, Angela Merkel werde doch ganz sicher in letzter Minute die EU zum Nachgeben bewegen, da Deutschland so viel ins Vereinigte Königreich exportiere. Einerseits verachten sie Deutschland und Merkel, andererseits glauben sie steif und fest, diese werden sie schon retten. Dabei verkennen die Brexiteers ebenso Merkels Macht –
sie haben offenbar nicht begriffen, dass Merkels Stern im Sinken begriffen ist, wie die deutschen Interessen.
Im besten Fall ist das britische Nicht-Verstehen der deutschen Position dabei einem kulturellen Unterschied geschuldet. Eine weitere Legende besagt, dass britische Austauschschüler erfahren, ehe sie nach Deutschland kommen, dass sie sich ganz unbritisch verhalten sollten. Wird ihnen also beim Essen ein Nachschlag angeboten, sollten sie gleich ja sagen, da er kein weiteres Mal angeboten würde. „Deutsche meinen, was sie sagen, also wenn Ihr noch wollt, dann sagt ja, sonst geht ihr hungrig schlafen", lautet die Botschaft. Britische Journalisten hingegen lieben die Auslegung der Worte von Politikern. „Wenn Sie sagen, Sie werden also keinen anderen Vertrag anbieten, was meinen Sie damit?" Das ist so eine typische Frage, die Norbert Röttgen neulich in etwa vier verschiedenen Varianten von der BBC erhielt. Die Interviewerin konnte einfach nicht glauben, dass Röttgen genau das meinte, was er sagte, nicht mehr, aber auch nicht weniger: Es gibt diesen Vertrag – oder keinen.
Vielleicht hätte die Interviewerin gleich noch fragen sollen: „Und wenn wir Euch als dreckige Ratten beschimpfen, was kommt da bei Euch an?" „Dass Ihr uns gerade als dreckige Ratten beleidigt habt." Die atmosphärischen Auswirkungen könnte sich dann vielleicht sogar die „Sun" vorstellen. Zumindest ist es wohl kaum verwunderlich, dass sich Jacques Delors aus der Rente heraus nach dem Brexit-Votum meldete und sagte: „Lasst die Briten ziehen!" Vielleicht möchte Delors ja auch die nächste Netto-Werbung einsprechen, das klänge bestimmt weniger nervig als die jetzige – oder als die Brexiteers.