Die einen Briten wollen vom Thema nichts mehr hören, andere hoffen, dass es so schlimm nicht kommt: Harwich liegt an Englands beschaulicher Ostküste, genau gegenüber von Felixstowe – dem größten Ostküstenhafen Englands.
Morgens um neun ist es noch ziemlich ruhig auf dem Ha’Penny Pier in Harwich an diesem etwas windigen Morgen. Ein paar Möwen kreisen über dem hölzernen Bootsanleger mit kleinen Pavillons und Bänken, 1853 erbaut, der letzte seiner Art in England. Etwas Betrieb herrscht nur im kleinen Café, die Scheiben sind beschlagen, Dan und Carl wuseln in der winzigen Küche, um Tee und Snacks für eine Gruppe älterer Damen zuzubereiten.
In den Wintermonaten sei es immer deutlich ruhiger, sagt Carl und grinst. Eine Erholungspause für ihn und die Kollegen, ab Frühjahr werde es hier oft ganz schön trubelig. Dann warteten Fußgänger auf die kleine Fähre, die Harwich mit dem gegenüberliegenden Shotley Gate und dem Hafen von Felixstowe International Port verbindet. Oder auf die hier startenden Boote für die Seehund-Touren, dazu kämen die Gruppen, die einfach nur auf dem viktorianischen Pier in der Sonne sitzen, ein Eis essen oder Kaffee trinken wollten.
Ob der Touristenzustrom nach einem möglichen Brexit im Frühjahr deutlich schwächer ausfallen würde? Auf keinen Fall, da sind sich Carl und sein Kollege Dan einig. Die meisten Touristen seien sowieso Briten, dazu kämen die Niederländer, die per Fähre von Hoek van Holland aus anreisen. Und dass in den letzten Jahren weniger Kreuzfahrtschiffe im International Port angelegt hätten, habe mit dem drohenden Brexit auch nichts zu tun. Das hänge doch eher damit zusammen, dass gleich mehrere Häfen an der englischen Ostküste um die Kreuzfahrtschiffe und damit um Tagesbesucher konkurrierten.
„Die Touristen sind sowieso oft Briten"
Weniger Tagesbesucher von den großen Schiffen, die Leben in die Stadt und auch Geld in Geschäfte und Restaurants bringen – auch David von der Harwich Society sieht das mit Bedauern. Rund 2.000 Ehrenamtliche kümmern sich in seinem Verein um historische Gebäude des Städtchens, haben ein kleines Museum in einem ehemaligen Leuchtturm ausgestattet und ein umfassendes Archiv mit Hunderten historischen Dokumenten und Fotos aufgebaut. Viele sind zudem regelmäßig als Guides im Einsatz, so wie der mittlerweile pensionierte David, der früher am International Port arbeitete. Stolz weist er auf einige besondere „Landmarks" von Harwich hin – darunter den „Treadwheel Crane" an der heutigen Strandpromenade, einen hölzernen Lastenkran, der von zwei großen Laufrädern angetrieben wurde. Und der auf die jahrhundert- ja eigentlich jahrtausendalte Tradition von Harwich als Hafen hinweist. Bereits die Römer sollen hier, an der Mündung der Flüsse Stour und Orwell in die Nordsee, gesiedelt haben, im 17. Jahrhundert wurde eine Werft für die Royal Navy eingerichtet. Ganz klar, dass die strategische Lage an zwei Flüssen und der Ostküste des Landes Harwich zu einem wichtigen Hafen machte, allerdings im Laufe der Jahrhunderte auch immer wieder zum Angriffsziel – zum Beispiel in den Napoleonischen Kriegen und im Zweiten Weltkrieg. Von hier aus dampften die Schiffe der Eastern Railway – die Eisenbahnlinie brachte die Passagiere direkt an den Kai in Harwich – zum „Kontinent". Auf Plakaten im Art-Deco-Design wurde für die damals mondäne Reise zum Festland geworben. Weitaus ruhiger geht es heute in Harwich zu, längst hat sich das gegenüberliegende Felixstowe als der bedeutendste Frachthafen an Englands Ostküste positioniert. Vor allem im Containerhandel. Von Harwichs Ha’Penny Pier aus sieht man die riesigen Schiffe, auf denen sich Stockwerke über Stockwerke von Frachtbehältern türmen. Noch eindrucksvoller wird es, wenn man mit Skipper Christian auf einem seiner kleinen Boote zur Seehundtour aufbricht. Christian, der aus Österreich kommt und seit mehreren Jahren mit seiner englischen Frau in der Region lebt, macht gern einen kurzen Abstecher Richtung Felixstowe. Gerade wird dort die „Ebba Maersk" beladen – ein 397 Meter langer Stahlkoloss, eines der größten Containerschiffe der Welt. Christian grinst, als er die faszinierten Blicke seiner Gäste bemerkt. Man muss sich förmlich den Hals verrenken, um bis zur obersten Containerreihe auf der „Ebba" hinaufschauen zu können.
Skipper Christian dreht ab – hinaus aus dem Hafenbereich und zu den Seehunden. Während wir parallel zur Küste in südlicher Richtung fahren, schildert der Österreicher seine Sicht auf den drohenden Brexit. Eine komplett vertrackte Situation sei das, sagt er. Und bezeichnet die Informationspolitik vor dem Referendum als einseitig. Zu wenig seien dabei die positiven Seiten einer EU-Mitgliedschaft betont worden, sagt er. Um sich und sein Business macht er sich keine Gedanken, ihn beschäftigt eher die Suche nach qualifiziertem Personal für seine kleine Hafenfähre und die Ausflugsboote. Denn Häfen wie Felixstowe, aber auch die Wartungsunternehmen für die nahen Offshore-Windanlagen könnten Bootsführern doch ganz andere Gehälter zahlen als eine kleine Firma wie seine, sagt er. Und was den Brexit angehe, denke er eher an die niederländischen Obst- und Gemüsebauern, deren Waren vielleicht nicht mehr so schnell wie jetzt geliefert werden könnten.
Nicht ganz so entspannt sieht man den drohenden Brexit rund 90 Autominuten weiter nördlich, in Suffolk. Kleine Dörfer aus Fachwerkhäusern sind in einer Bilderbuchlandschaft verteilt, Pferde grasen auf Wiesen. In der Ferne hört man das Rauschen der Nordsee. Nur wenige Meilen von der Küste entfernt liegt das Örtchen Snape, nach dem der zwielichtige Zauberer aus „Harry Potter" benannt ist – das aber in erster Linie für das Kultur- und Veranstaltungszentrum „Snape Maltings" bekannt ist. Der riesige Gebäudekomplex am Flüsschen Alde entstand im 19. Jahrhundert als Gersten-Mälzerei, das Getreide wurde hier verarbeitet und dann auf flachen Booten zu Brauereien in ganz England und aufs europäische Festland transportiert. In den 60er-Jahren allerdings ging das Unternehmen bankrott. Ein Glücksfall, dass Komponist Benjamin Britten einen Veranstaltungsort für das von ihm ins Leben gerufene Aldeburgh Festival suchte.
Kein Grund zur Panik
Seit 1967 finden in der nun umgebauten Halle Konzerte, Tanz- und Theateraufführungen statt. In einem der kleineren Studios probt gerade das Lassus Quartett. Die vier jungen Musiker aus Spanien, Kanada und Großbritannien haben sich 2015 in der Schweiz zusammengefunden. Längst hat sich das einstige Industrieareal zum Kreativhub für eine international gemischte Künstlerschar entwickelt, genießt in Musikerkreisen ein außerordentliches Renommee. Kaum auszudenken, meint Pressechef Shoel Stadlen, was passiere, wenn ein Brexit rigidere Einreisebestimmungen, womöglich sogar einen Visazwang, für europäische Gastmusiker mit sich bringe. Das würde die Arbeit in „Snape Maltings" auf jeden Fall sehr viel komplizierter machen, also besser erst einmal nicht daran denken.
Ähnlich sieht das auch Galeristin und Kunstförderin Caroline Wiseman im nahen Aldeburgh. Sie hat in ihrem Haus – man könnte es auch eine bewohnte Galerie nennen – eine hochkarätige Sammlung zeitgenössischer Kunst untergebracht. Und bereitet gerade eine Gruppenausstellung für die Biennale in Venedig vor. Natürlich, sagt sie, seien dabei viele Briten vertreten, aber auch Künstler aus anderen europäischen Ländern, auch aus Deutschland. Auch für sie ist ein Brexit undenkbar, die Folgen gerade in einer so international aufgestellten Branche wie dem Kunsthandel noch gar nicht abzusehen. So heißt es also erst einmal weiter an der Organisation für Venedig zu arbeiten – und sich von einem drohenden EU-Austritt nicht nervös machen zu lassen. Grund für Panik gebe es sowieso nicht, meint Sicherheitsmann Rick am Flughafen Stansted, der mit seinen Kollegen am späten Nachmittag mehr als gut zu tun hat. Schließlich starten jetzt die Maschinen der Billigflieger im Fünf-Minuten-Takt. Zeit für Smalltalk bleibt dennoch. Nein, längere Kontrollen werde es auch nach dem Brexit nicht geben, glaubt Rick. Daran habe doch keiner Interesse. Und wünscht zum Schluss noch: „Alle Gute!"