Der Weg zu Frauenstudium und zu Frauenwahlrecht war ein Hindernisrennen gegen Vorurteile und männliche Konkurrenzangst. Vor 100 Jahren durften Frauen in Deutschland erstmals wählen, und 37 von ihnen zogen 1919 erstmals in die Weimarer Nationalversammlung ein.
Alles im Leben braucht seine Zeit. Das gilt für die Biografie der Menschen, für die Geschichte der Völker und die der politischen Ideen. Man betrachte das Werden des Parlamentarismus, den Siegeszug des demokratischen Wahlrechts oder die Durchsetzung gleicher Frauenrechte in Staat und Gesellschaft. Ohne das von Max Weber beschworene „starke langsame Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich" zur Umsetzung des Erwünschten geht jedoch nichts. Webers berühmte Formel zur Beschreibung des Wesens der Politik fiel in einem Anfang 1919 vor Münchner Studenten und – damals keine Selbstverständlichkeit – Studentinnen gehaltenen Vortrag.
Bayern hatte 1903 als zweites deutsches Land nach Baden (1900) und lange vor Preußen (1908) das Frauenstudium erlaubt. Vorreiter in Europa waren Frankreich (seit 1863) und die Schweiz (seit 1864). Es war ein steiniger Weg, bis sich die deutschen Universitäten den Frauen öffneten. Ein Grund dafür war in Preußen die zunehmende Zahl unverheiratet und damit unversorgt bleibender Adels- und Bürgertöchter. Diesen Frauen mussten höher qualifizierte Tätigkeiten erschlossen werden, um sie vor dem sozialen Abstieg zu bewahren. Der ideale Nährboden für die aufkommende Frauenrechtsbewegung.
Verein engagierte sich für gleiche Rechte
Zu deren Pionierinnen gehörten die Publizistin Louise Otto-Peters und die Bildungsaktivistin Hedwig Kettler. Otto-Peters hatte schon bei der 1848er-Revolution für die Frauenrechte gestritten. 1865 gründete sie den „Allgemeinen Deutschen Frauenverein". Dessen Ziele: gleiche Chancen für Frauen in Bildung und Beruf. Kettlers Werk war der „Frauenverein Reform" (1888). Dieser forderte staatliche Gymnasien für Mädchen sowie gleiche Lehrpläne und gleiches Abitur für beide Geschlechter. 1893 öffnete das erste deutsche Mädchengymnasium in Karlsruhe seine Pforten. Kettlers Verein widersetzte sich dem tradierten Rollenverständnis, das den Frauen die Sorge um Haus und Kinder zuschob, das Sagen in Politik und Gesellschaft aber den Männern überließ.
Die Reformerinnen widersprachen der These von der naturgegebenen „sozialen Ungleichheit" zwischen Mann und Frau. Kreativität und Abstraktionsfähigkeit als typisch männlich, Mütterlichkeit und Praxisorientierung als typisch weiblich? Das waren für sie haltlose Klischees: „In der Wiege waren unsere Töchter nicht unwissender als unsere Söhne. Sie sind es erst jetzt, nachdem sie erzogen wurden." Denn in die Sonne gestellt, treibe eine Pflanze schönere Blüten als im Schatten.
Im Gegensatz zu der moderaten Frauenrechtlerin Helene Lange lehnte Kettler auch die Festlegung von Frauen auf den pädagogischen oder sozialen Bereich ab. Die Sängerin Claire Waldoff lieferte dazu den kessen Songtext: „Die Männer hab’n alle Berufe / Sind Schutzmann und sind Philosoph / Sie klettern von Stufe zu Stufe / In der Küche steh’n wir und sind doof."
Herren der Schöpfung gingen auf Barrikaden
Nur Mutter oder Magd zu sein, das genügte seit Mitte des 19. Jahrhunderts vielen Frauen nicht mehr. Sie wollten am geistigen Leben teilhaben, auch in der Universität. Da gingen die Herren Professoren auf die Barrikaden. Ein Aufstand der männlichen Angst gegen die weibliche Konkurrenz. Obrigkeit und Wissenschaft seien Männersache und sollten es auch bleiben, verkündete der angesehene preußische Professor Heinrich von Treitschke. Pseudowissenschaftliche Traktate beschworen die Unfähigkeit der Frau zu rationalem Denken. Andere malten den Niedergang der deutschen Kultur an die Wand. Der Jenaer Anatomie-Professor Karl von Bardeleben sah langes Sitzen in Gymnasium und Hörsaal als schädlich an für die weiblichen Gebärorgane. Ein Göttinger Mediziner bemühte die Sexualmoral seiner Zeit: „Eine junge Dame im Seziersaal vor einer gänzlich entblößten männlichen Leiche, man stelle sich das einmal vor! Ich sage nein und abermals nein!"
Manche Pathologen bestanden auf separate Sezierkurse für angehende Ärztinnen. Darunter auch der weltberühmte Rudolf von Virchow. Vereinzelt gab es aber auch Lichtblicke. In Zürich wurde Franziska Tiburtius von der männlichen Übermacht ausgepfiffen, als sie mit wenigen Studentinnen erstmals den Seziersaal betrat. Nach einem Donnerwetter des Professors verging den Studenten der Spott. 1876 erwarb sie den Doktorhut.
Nach der Jahrhundertwende zogen mehr und mehr Mädchen in die Gymnasien und Universitäten ein. Anno 1918 waren von den rund 60.000 Studierenden an deutschen Universitäten bereits mehr als 6.000 Frauen, 1931 schon doppelt so viele.
Die Botanikerin Margarete von Wrangell erlangte 1923 als erste Frau in Deutschland eine ordentliche Professur. Doch die Juristin Dr. Elisabeth Selbert, eine der Mitschöpferinnen des „Grundgesetzes" (1948/49), wurde noch Mitte der 1920er-Jahre gebeten, mit ihren wenigen Mitstudentinnen den Hörsaal zu verlassen, wenn der Professor über Sexualdelikte sprach.
Die Nationalsozialisten drängten die Frauen später wieder aus den Hörsälen und akademischen Berufen. Ihr Ideal war die Ehefrau und Mutter. Es gelang ihnen aber nicht nachhaltig, das Rad der Zeit zurückzudrehen. Der Aufholprozess zugunsten der Frauen ging weiter.
Heutzutage sind in Deutschland Frauen in der Schule erfolgreicher als Männer. Sie machen häufiger Abitur und stellen fast die Hälfte der Hochschulabsolventen. Auch die Doktorinnen und Professorinnen sind im Vormarsch. Fast die Hälfte aller Promotionen (44,7 Prozent) und nahezu ein Drittel der Habilitationen (28,4 Prozent) wurden 2014 von Frauen abgelegt. Eine respektable (Zwischen-)Bilanz. Louise Otto-Peters hat Recht behalten: „Die Zukunft ist unser!"
Das sah auch die Berliner Fabrikantentochter Hedwig Dohm so. Sie zog fünf Kinder groß – darunter die Mutter von Thomas Manns Frau Katia – und machte als Frauenrechtlerin Furore. Mit Witz und Ironie entlarvte sie die geistige Geringschätzung der Frauen durch die selbstherrliche Männerwelt. Sie forderte für die Frauen unter anderem das Recht auf Scheidung – und auf wilde Ehe. Und natürlich auch das Frauenwahlrecht.
14,5 Millionen Frauen gingen erstmals wählen
In der Novemberrevolution 1918 wurde Letzteres vom „Rat der Volksbeauftragten" verkündet und in der Verfassung der Weimarer Republik (Artikel 22 und 109) verankert. Der Weg dorthin war mit den altbekannten Vorurteilen gepflastert. Wieder ertönte das Lied von der angeblich minderen Begabung der Frauen und ihrer Vorherbestimmung für die private, vermeintlich unpolitische Sphäre des Lebens. Doch am 19. Januar 1919 war es so weit. Erstmals schritten 14,5 Millionen Frauen in Deutschland zu den Wahlurnen. Die äußeren Umstände waren schwierig. Der Weltkrieg war vorbei, Lebensmittel und Heizmaterial knapp. Von den gewählten 421 Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung waren 37 Frauen.
Als erste trat die SPD-Abgeordnete Marie Juchacz am 19. Februar 1919 ans Rednerpult. Selbstbewusst weigerte sie sich, der Regierung für das Frauenwahlrecht zu danken: Man habe den Frauen nur gegeben, was ihnen bislang „zu Unrecht vorenthalten" wurde. Einen Monat zuvor, am 15. Januar 1919, hatte die Rechtshistorikerin Marianne Weber von der linksliberalen DDP als erste Frau im badischen Landtag das Wort ergriffen.
Nazis konnten Zeit nicht zurückdrehen
Einst hatte ihr Ehemann, der bekannte Soziologe Max Weber, die „Geschlechtseitelkeit" höherer Ministerialbeamter gegenüber einer im Dienst gemobbten Fabrik-Inspektorin gegeißelt. Jetzt versicherte sie selbst der Öffentlichkeit, dass die Frauen für die parlamentarische Arbeit besser vorbereitet seien, als die meisten glauben.
Die Zukunft gab ihr Recht. Die Ära der Nationalsozialisten war da nur eine bedauerliche Unterbrechung, nicht das Ende des Emanzipationsprozesses. Hundert Jahre nach der Verkündigung des Frauenwahlrechts (1918) und fast siebzig Jahre nach der Verankerung der Gleichberechtigung im Grundgesetz (1949) finden wir in Deutschland Frauen in Führungspositionen auf allen Ebenen, in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft.
Nicht zuletzt auch in der Politik, wo Angela Merkel als Bundeskanzlerin seit 2005 vielen als Verkörperung der von Max Weber postulierten Tugenden Geduld, Beharrlichkeit und Augenmaß gilt. Im Saarland war die CDU-Politikerin Annegret Kramp-Karrenbauer von 2011 bis 2018 Ministerpräsidentin. Im Rennen um die Merkel-Nachfolge hat sie einen ersten Teilerfolg als neue CDU-Bundesvorsitzende errungen.
Ob sie es auch auf den Kanzlerstuhl schafft? Gewiss ist zweierlei: Die Geschlechterparität in Staat und Gesellschaft ist noch lange nicht am Ziel. Gute Politik aber ist keine Frage des Geschlechts.