Eine neue Studie verspricht eines der größten Rätsel der steinzeitlichen Megalithkultur zu lösen. Ihr Ursprung wird in Nordwestfrankreich lokalisiert und soll sich von dort über den Seeweg in weite Teile Europas ausgebreitet haben.
Um die über weite Teile Europas und einige Regionen Nordafrikas verbreitete Megalithkultur aus der Steinzeit ranken sich noch immer viele Mythen und Geheimnisse. Viele Fragen sind noch immer offen und werden in der Wissenschaft teils kontrovers diskutiert. Handelte es sich beispielsweise bei den aus groben Felsklötzen, den sogenannten Megalithen (der Begriff ist aus dem Altgriechischen abgeleitet und bedeutet „großer Stein"), errichteten Monumenten vornehmlich um Kultstätten für die Toten und Ahnen? Oder um heilige religiöse Mittelpunkte oder Zentren der frühen medizinischen Heilkunde? Oder waren astronomische Bezüge maßgebend, weil in ganz Europa alle Grab- und Kultstätten nach Osten oder Südosten, zur aufgehenden Sonne hin, ausgerichtet sind? Vermutlich von allem etwas. Eines der Rätsel scheint nun womöglich dank einer neuen Studie gelöst. Diese hat die Archäologin Bettina Schulz Paulsson von der Universität Göteborg im renommierten Fachmagazin „Procceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America" (PNAS) jüngst veröffentlicht. Die Forscherin hat den Ursprung der Megalithkultur lokalisiert und einen neuen Erklärungsansatz für die Ausbreitung der Monumente und des damit verbundenen Ritus geliefert.
35.000 Megalithe in Europa
Derzeit sind europaweit noch etwa 35.000 Megalithe erhalten, die in ihrer Struktur ziemlich auffällige Ähnlichkeiten aufweisen. Für ihre Studie hat die schwedische Archäologin das Alter von kohlenstoffhaltigen Überresten, vor allem Holzkohle und menschliche Knochenfragmente, an gut 2.400 Orten mittels der Radiokarbon-Methode (C14) untersucht. Mit dem Ergebnis, dass die älteste bekannte megalithische Kultstätte in der Bretagne zu finden ist. Es handelt sich um das runde Hügelgrab St. Michel in Carnac, eine verschlossene, steinerne Grabkammer, die bis zu 6.800 Jahre alt sein soll. „Die Radiokarbon-Daten deuten darauf hin, dass die ersten megalithischen Gräber in Europa kleine, abgeschlossene Strukturen oder Dolmen waren, die überirdisch aus Steinplatten errichtet und von einem Hügel aus Erde oder Stein bedeckt wurden", erklärt Schulz Paulsson. Als Vorläufer des Hügelgrabs von Carnac und ähnlicher bretonischer Monumente hat die Archäologin auf verwandte Erdbauten (aber noch ohne Steinkammern) beispielsweise des vor fast 7.100 Jahren entstandenen Gräberfelds von Passy im Pariser Becken hingewiesen. Woraus sie die Schlussfolgerung gezogen hat, dass Nordwestfrankreich allgemein und die Bretagne im Besonderen der Ursprung der Megalithkultur gewesen sein dürfte. Schon wenig später seien ähnliche Grabstätten im nördlichen Mittelmeerraum entdeckt worden, und zwar in Südfrankreich, auf Korsika und Sardinien sowie in Katalonien und Norditalien.
Vor 6.300 Jahren tauchte in der Megalithkultur, wieder zuerst in Frankreichs äußerstem Westen, eine Neuerung auf: die ersten Dolmen und Ganggräber, die nicht mehr verschlossen waren und in denen daher Verstorbene über die Jahrhunderte hinweg beigesetzt werden konnten. Als Beispiele nannte Schulz Paulsson entsprechende Monumente im bretonischen Lannec er Gadouer und in Prissé-la-Charrière in Neu-Aquitanien. Vor etwa 6.000 Jahren wurde damit begonnen, ähnliche Anlagen auf den britischen Inseln, auf der iberischen Halbinsel und in weiteren Teilen Westfrankreichs zu errichten. Wofür es laut der schwedischen Forscherin nur eine Erklärung geben konne: die Ausbreitung der Innovation über den Seeweg. „Ihre Verbreitung unterstreicht die Verbindung jener Gesellschaften zum Meer und zur Verbreitung der Grabtraditionen über den Seeweg."
Vor rund 5.500 Jahren wurde mit dem Bau vergleichbarer Monumente erstmals auch in den heutigen Niederlanden, Dänemark und Südschweden begonnen. Auch in Norddeutschland, wo man sich heute beispielsweise auf der 330 Kilometer langen Straße der Megalithkultur 33 archäologische Stätten von Oldenburg über das Emsland bis nach Osnabrück anschauen kann. Auch das „deutsche Stonehenge" von Stöckheim in Sachsen-Anhalt lohnt einen Besuch. Das britische Stonehenge, die weltweit wohl berühmteste Megalithstruktur, wurde frühestens vor 5.000 Jahren erbaut, die bekanntesten Megalithen sind maximal 4.500 Jahre alt. Auch hier sei für die Ausbreitung laut Schulz Paulsson der Seeweg ganz entscheidend gewesen. „Die ältere Archäologen-Generation hatte Recht bezüglich der maritimen Verbreitung des Megalithkonzepts", so die Schwedin. „Aber sie lag falsch, was die Ursprungsregion und die Verbreitungsrichtung betrifft." Aus ihrer Studie könne abgeleitet werden, dass die technischen und nautischen Fähigkeiten der Menschen vor etwa 7.000 Jahren offenbar deutlich unterschätzt worden seien, dass sie wesentlich ausgefeilter waren, als bisher allgemein angenommen wurde.
Die bekanntesten Megalithe sind maximal 4.500 Jahre alt
Bislang wurden in der Forschung im Wesentlichen zwei Hypothesen bezüglich des Ursprungs der Megalithkultur diskutiert. Die früheste Erklärung aus Zeiten des beginnenden 20. Jahrhunderts, wonach der Brauch ursprünglich aus dem vorderasiatischen Raum übernommen worden sei, konnte mit Hilfe der Radiokarbon-Methode als falsch nachgewiesen werden. Die zweite allgemein in der Wissenschaft bislang akzeptierte Hypothese postulierte, dass sich die Megalithkultur in verschiedenen Regionen ganz separat und eigenständig entwickelt habe. Der maritime Verbreitungsweg ist deshalb ein kompletter Neuansatz. Der Archäologe und Frühgeschichtsspezialist Prof. Martin Bartelheim von der Universität Tübingen hält die neue Hypothese nicht für völlig abwegig. Schließlich sei hinlänglich bekannt, dass Menschen schon vor 7.000 Jahren am Atlantik Küstenschifffahrt betrieben hätten. Auch die Zuweisung des Ursprungs der Megalithkultur nach Nordwestfrankreich hält er für „nicht unwahrscheinlich". Allerdings gibt er zu bedenken, dass bei der Studie die bislang kaum datierten Megalithstrukturen in nordafrikanischen Ländern wie Ägypten, Libyen, Äthiopien, Tunesien oder Marokko nicht berücksichtigt worden seien. Daher seien aus seiner Sicht die Schlussfolgerungen seiner schwedischen Kollegin noch unter einen gewissen Vorbehalt zu stellen.