Im Berliner Vorort Mahlow steht Deutschlands erstes kulturspezifisches Hospiz. Es richtet sich sowohl an Einwanderer als auch an Menschen, die mit Religion nichts am Hut haben.
Vor der Tür steht ein Fahrrad, an der Mauer funkelt das Mosaik eines Kranichs. Der Himmel blau, die Sonne kräftig; im Hintergrund rauschen Kiefern im Wind. An diesem Ort, der zum Sterben geschaffen wurde, erinnert nichts an den Tod. Das ebenerdige Gebäude könnte genauso gut eine Ferienanlage oder ein Tagungszentrum sein, in das gestresste Großstädter am Wochenende fliehen. Es ist ein Ort, der Frieden und Ruhe ausstrahlt, und genau das ist gewollt.
Das Hospiz Ipek, gelegen im Berliner Vorort Mahlow, ist nicht nur von außen besonders. Drinnen, auf den hellen, leisen Fluren, sind religiöse Symbole tabu. Keine Kreuze, keine Minarette, keine Jesusbilder. Um in Würde zu sterben – so die Idee –, muss niemand einer bestimmten Religion angehören. Die Patienten sollen so aus dem Leben scheiden dürfen, wie sie gelebt haben: mit ihrer individuellen Einstellung, ihren Vorlieben, ihren kulturellen Neigungen und ihrer sexuellen Orientierung. Und eben auch ihrer Religion.
„Kulturspezifisch" nennt sich diese Philosophie, der sich das Hospiz in der 12.000-Einwohner-Gemeinde verschrieben hat. Damit ist es die erste Einrichtung dieser Art in Deutschland. In der Praxis öffnet sich das Hospiz damit vor allem zwei Zielgruppen: zum einen den Konfessionslosen, zum anderen den Muslimen, die ihren Glauben in kirchlich-christlichen Einrichtungen bislang nur bedingt wiederfinden. Die Berlinerin Nare Yesilyurt betreibt deshalb bereits seit 1999 den kulturspezifischen ambulanten Pflegedienst „Deta-Med". Mit dem Hospiz Ipek, benannt nach Yesilyurts verstorbener Mutter, hat sie das Konzept nun eine Stufe weitergetragen.
Die Zeit scheint reif für einen solchen Ansatz, denn viele Gastarbeiter der ersten Generation haben inzwischen ein hohes Alter erreicht. „Die Community der Migranten leidet unter denselben Krankheitsbildern wie diejenigen, die in Deutschland geboren wurden", sagt Frank Beckmann, Assistent der Geschäftsführung bei Deta-Med. Allerdings alterten viele von ihnen deutlich schneller. „Es waren Knochenjobs, die die Gastarbeiter gemacht haben. Das macht sich natürlich irgendwann gesundheitlich bemerkbar."
Gerade im Umgang mit Pflege und Tod gebe es kulturelle Unterschiede. „Das ist in der islamischen Welt ein deutlich größeres Tabuthema als bei uns", sagt Beckmann. Hinzu kämen ganz konkrete Belange: Welche Speisen kommen bei muslimischen Patienten auf den Tisch? Dürfen auch Pfleger des anderen Geschlechts die Körperpflege übernehmen? Und können sie sich ausreichend verständigen? „Da gibt es viele Hürden", sagt Beckmann, „und natürlich auch innerhalb der Community riesige Unterschiede." Manche lehnten bestimmte Therapien ab, weil sie Schmerzen als eine göttliche Strafe ansähen – andere hätten einen entspannteren Zugang. Oder seien gar nicht religiös.
In den kommenden Jahren wird sich die Zahl pflegebedürftiger Zuwanderer weiter erhöhen. Auch die Wissenschaft hat sich inzwischen mit dem Thema befasst, etwa in der sogenannten MLD-Studie (Muslimisches Leben in Deutschland), bei der über 2.000 Muslime aus verschiedenen Herkunftsländern befragt wurden. Zwar ist die Studie nicht repräsentativ, aber zumindest Tendenzen lassen sich daraus erkennen. Wenn es um die Wahl eines potenziellen Pflegeheims geht, ist der Mehrheit der Befragten drei Punkte besonders wichtig: ein genereller Respekt vor dem Glauben, die Beachtung muslimischer Speisevorschriften und muttersprachliche Angebote. Die Betreuung durch einen Imam spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle.
Mit diesem Vorwissen entstand das Konzept des kulturspezifischen Hospizes. Es liegt auf dem Gelände einer ehemaligen Polyklinik, die zu DDR-Zeiten ihren Standort in Mahlow hatte. Heute befindet sich ein konfessionelles Altersheim direkt gegenüber – Mahlow, die Kleinstadt, die irgendwann einmal in der Einflugschneise des BER-Flughafens liegt, lebt auch von der Pflege-Industrie. Trotzdem waren manche Anwohner am Anfang alles andere als begeistert über das neue Hospiz.
Schmerzen als göttliche Strafe
„Offen gesagt hat es niemand", erinnert sich Beckmann. „Aber natürlich gab es religiöse Vorbehalte." Auch die Gespräche mit christlichen Kirchen seien am Anfang zäh verlaufen. „Wir haben lange auf Granit gebissen, um überhaupt einen Termin zu bekommen", so Beckmann. Bei einer Informationsversammlung habe ein Anwohner gefragt: „Dürfen auch unsere Leute hier sterben?" Wobei es nicht bei verbaler Kritik geblieben sei: „Während der Bauphase wurden Fensterscheiben eingeworfen. An den Wänden tauchten Nazi-Sprüche auf."
Inzwischen haben sich viele Bedenken zerstreut. Ortwin Baier, der Bürgermeister des Gemeindeverbunds Blankenfelde-Mahlow, sagt, er habe das Hospiz von Anfang an begrüßt. „Es ist eine fantastische Sache, dass es so etwas gibt. Dort können Menschen unabhängig von ihrer Religion unter menschenwürdigen Bedingungen Abschied nehmen", so der SPD-Politiker. An ihn selbst seien keine Bedenken aus der Bevölkerung herangetragen worden, beteuert der Bürgermeister. Er weiß aber auch, dass es Widerstände gab. „Unverbesserliche gibt es leider überall, auch in Mahlow", sagt Baier. Er selbst finde, dass die Einrichtung gut zu der Kleinstadt passe. „Wie das Geborenwerden gehört das Sterben nun mal zum Leben dazu."
Rein optisch fällt kaum auf, dass in Mahlow nach kulturspezifischen Gesichtspunkten gearbeitet wird. Im Eingangsbereich steht die für Hospize typische Kerze – an Tagen, an denen sie brennt, ist jemand gestorben. Daneben liegt ein Gästebuch, in das sich Angehörige eintragen können. Von „empathischer, sanfter, unendlich menschlicher Begleitung" ist darin die Rede, ebenso von „liebevoller Pflege". Religion scheint keine Rolle zu spielen. Auch lesen sich die Namen der Angehörigen nicht so, als handle es sich hierbei um muslimische Einwanderer.
So sollen auch die bunten Mosaike eine Art kulturellen Minimalkonsens darstellen: der Pfau als Sinnbild der Unsterblichkeit; der Kranich als mythischer Vogel, der die Seelen der Toten ins Jenseits geleitet. „Darin können sich sogar Atheisten widerfinden", sagt Swantje Karsten, die pflegerische Leiterin des Hospizes. Bei der medizinischen Pflege gebe es ohnehin keine Unterschiede.
„Wir wollen den Kulturbegriff auch nicht auf die Religion beschränken", sagt Karsten. Es gehe darum, sich auf die Vorlieben der jeweiligen Person einzustellen. „Das kann etwas ganz Banales sein. Wenn ich höre, wie jemand beim Baden gern klassische Musik hört, dann haben wir einen Anknüpfungspunkt, ein Gesprächsthema. Bis jetzt waren unsere Gäste jedenfalls nicht sonderlich religiös."
Im Alltag spielt es aktuell ohnehin noch keine Rolle, ob in der Hospiz-Küche Schweine-Buletten oder Halal-Fleisch zubereitet werden. Der große Andrang kulturspezifischer Gäste ist bislang nämlich ausgeblieben. Von den zwölf Zimmern sind aktuell vier belegt – allesamt mit gebürtigen Deutschen.