Opernhaus neben Naturpark: Das wird nicht funktionieren. So ist die Idee von den „gleichwertigen Lebensverhältnissen" in Stadt und Land aber auch nicht gedacht. Es geht eher darum, Initiativen auf dem Land zu unterstützen – finanziell, aber auch mit Raum für Eigeninitiative und Ideen.
Als Christine Wenzel aus der Stadt nach Quetzdölsdorf zog, hatte der letzte Bäcker in dem 400-Seelen-Dorf im Süden von Sachsen-Anhalt gerade zugemacht. Es gab keinen Arzt, keinen Supermarkt, die Busverbindung war mäßig und auch die örtliche Kita steht seitdem eigentlich ständig auf der Kippe. Man könnte also meinen, das Dorf in der Nähe von Bitterfeld stehe exemplarisch für all die Probleme des ländlichen Raumes, doch das sieht Wenzel als heutige Ortsbürgermeisterin ganz anders. „Aus der Sicht der Städter mag dieser Befund stimmen. Von außen sieht man immer nur den Mangel. Aber wenn man es von innen heraus betrachtet, finden sich auch viele Vorteile des Dorflebens", sagt sie. „Wenn ich unsere Bewohner frage, dann schätzen sie den Zusammenhalt im Dorf, die Gemeinschaft und den Wissensaustausch. Das sind soziale Werte, die auch an die nächste Generation weitergetragen werden." Wenzel lebt gern auf dem Land, trotz aller Nachteile. Was nicht heißt, dass sie sich nicht trotzdem wünschen würde, dass sich die Politik noch stärker um den ländlichen Raum bemüht.
Das Stichwort lautet: Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Laut Raumordnungsgesetz sind „im Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland und in seinen Teilräumen […] ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben", gleichermaßen in Ballungsräumen wie in ländlichen Räumen. Das bedeutet nicht, dass die Lebensverhältnisse zwischen Stadt und Land identisch sein sollen – das ginge auch gar nicht. „Man kann nicht erwarten, dass man auf der einen Seite das Opernhaus direkt nebenan hat und auf der anderen den Nationalpark", meint Ralph Brockhaus aus der Abteilung für Ländliche Entwicklung im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, das neben dem Bundeswirtschaftsministerium hauptsächlich für den ländlichen Raum zuständig ist. Es geht somit nicht darum, dass auf dem Land überall die gleiche Infrastruktur vonnöten wäre wie in Ballungszentren, sondern dass eine Grundinfrastruktur überhaupt vorhanden ist – dass also gewisse Mindeststandards erfüllt sind.
„Die vielen Vorteile des Dorflebens"
Inwieweit das eine Aufgabe des Bundes ist, bleibt umstritten. Oft wird auf das Grundgesetz verwiesen, doch genau genommen entbindet dieses den Bund eher von seiner Pflicht. In Artikel 72 heißt es, dieser habe in bestimmten Aufgabenbereichen das Gesetzgebungsrecht, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet […] eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht" – und eben nur dann.
Auch das Bundesverfassungsgericht urteilte 2005, dass zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse eine bundesgesetzliche Regelung erst dann erforderlich sei, „wenn sich die Lebensverhältnisse in den Ländern der Bundesrepublik in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben oder sich eine derartige Entwicklung konkret abzeichnet."
Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sei ein politisches Ziel, sagte Ralph Brockhaus kürzlich bei einer Podiumsdiskussion zu diesem Thema bei der Bundeszentrale für politische Bildung. „Es ist wichtig, dass unser Land nicht zerreißt", sagt er. Die ländlichen Räume seien auch ein Stabilitätsfaktor. Allerdings sind dem staatlichen Engagement auch Grenzen gesetzt: durch die Freiheitsrechte (Freizügigkeit von Personen, freie Wahl des Arbeits- und Ausbildungsplatzes etc.), den Föderalismus und die freie Marktwirtschaft. So ist die öffentliche Hand etwa beim derzeit viel diskutierten Thema schnelleres Internet auf die Mithilfe der Unternehmen angewiesen.
Ralph Brockhaus sieht im Erreichen gleichwertigerer Lebensverhältnisse „im Kern eine Aufgabe der Zivilgesellschaft". Damit steht er nicht allein, denn auch das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat festgestellt, „dass sich Förderung kaum von oben nach unten organisieren lässt: Weder durch den Aufbau einer aufwendigen Infrastruktur noch durch ein aktivierendes Coaching, das von Beratern angeboten wird. Wenn die Menschen fehlen, die das Schicksal ihrer Heimat in die Hand nehmen, lässt sich auch durch hohen Mitteleinsatz kaum etwas ausrichten." Das zeigt auch das Beispiel der Dorfgemeinschaft in Ovenhausen in Nordrhein-Westfalen, das sich dem allgemeinen Trend langsam sterbender Dörfer bereits seit Jahren erfolgreich widersetzt (siehe Folgeartikel).
Tobias Federwisch, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung, sagt: „Es braucht intrinsisch motivierte Personen, die ihr Umfeld für tolle Ideen und Projekte begeistern können und auch den Zugang zu den nötigen Ressourcen haben." Zudem käme der Kommunikation innerhalb des Ortes eine Schlüsselrolle zu. „In den Dörfern, in denen man miteinander redet und vielleicht auch mal externe Experten zum Gespräch dazu holt, findet in der Regel ein konstruktiver Informationsaustausch statt, der dann auch häufig zu den gewünschten Ergebnissen führt", sagt Federwisch. Wichtig sei jedoch, dass die Politik für den nötigen Handlungsspielraum sorge, in dessen Rahmen sich die Akteure vor Ort entfalten können. Denkbar wäre zum Beispiel, die heute oft sehr hohen Auflagen bei der Entwicklung neuer Projekte zu reduzieren – etwa, was Minijobs, befristete Beschäftigung, Leiharbeit und vor allem Teilzeitarbeit angeht. Ein anderes Thema ist die finanzielle Förderung. Bislang unterstützt das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft hauptsächlich Projekte aus den Bereichen Agrar und Küstenschutz. Ralph Brockhaus deutet allerdings an, dass das Ministerium künftig auch andere Projekte aus dem ländlichen Raum fördern wolle. „Die Landwirtschaft ist heute nicht mehr überall die tragende Säule", sagt er.
Ländliche Räume nicht schlecht reden
Das Thema ist auch deshalb so kompliziert, weil es in Deutschland ganz unterschiedliche ländliche Räume mit ganz verschiedenen Problemen gibt. Schon der Blick auf Berlin und Brandenburg gibt einen Eindruck von dem Mix: Da steht neben der Metropole Berlin und den oft sehr ländlich geprägten Regionen wie der Prignitz oder dem Oderbruch der sogenannte Speckgürtel rund um die Bundeshauptstadt mit seinen ganz eigenen Herausforderungen. Schulen, Kitas oder Ärzte sind dort durchaus vorhanden, aufgrund des verstärkten Zuzugs kann es allerdings zu Engpässen kommen. „Am Beispiel des Berliner Umlandes erkennt man sehr gut, wie dynamisch sich ländliche Räume entwickeln können. Und jede Planung steht vor der Herausforderung, mit dieser Dynamik umzugehen", sagt Tobias Federwisch.
Noch immer herrsche in der Gesellschaft häufig eine städtisch geprägte Sichtweise, die mit Blick auf die Dörfer vor allem deren Probleme in den Vordergrund rückt. „Wir haben uns die ländlichen Räume in den vergangenen Jahren oft schlecht geredet", meint Federwisch, dabei seien Projekte dort häufig besonders innovativ. Auf dem Land gebe es genauso Co-Working-Spaces wie in der Stadt, außerdem multifunktionale Dorfläden und kreative Kulturveranstaltungen wie eine Oper im ehemaligen Schweinestall. „Es muss ja nicht immer eine große, bahnbrechende Erfindung sein. Die Innovation kann auch darin bestehen, verschiedene bereits bekannte Lösungselemente auf eine ganz neue Art miteinander zu kombinieren."