Im Berliner Politikbetrieb wächst die Nervosität. Ein Zeitfenster im Wahljahr 2019 nährt die Spekulationen um Kanzlerwechsel, Neuwahlen und neue Konstellationen.
Beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages ist man Mitte Februar stutzig geworden. Nachfragen nach einem ganz speziellen Thema hatten sich gehäuft: Kann eigentlich jemand Bundeskanzler werden, der nicht Mitglied des Bundestages ist?
Waren das vor einigen Wochen noch rein theoretische Anfragen, hat die Entwicklung nun an Dynamik zugelegt.
Nicht erst seitdem Annegret Kramp-Karrenbauer im vergangenen Dezember die CDU-Parteispitze übernommen hatte, steht die Frage nach dem nächsten großen Karrieresprung ins Kanzleramt im Raum. Gleichzeitig greifen seit Jahresbeginn die Spekulationen um ein Zeitfenster immer mehr Raum, das sich zwischen Ende Mai und vor den großen Sommerferien auftut.
Sollten CDU und SPD aus der Europawahl (26. Mai) weiter gerupft hervorgehen, könnten beide Koalitionspartner im Blick auf die Ost-Landtagswahlen im Herbst geneigt sein, noch vor der Sommerpause einen großen Cut zu machen. Eine Variante dabei wäre der frühzeitige zweite Wechsel von Angela Merkel zu Annegret Kramp-Karrenbauer, nach Parteivorsitz dann das Kanzleramt.
AKK hatte bei ihrem Wechsel nach Berlin alles auf eine Karte gesetzt, ein Mandat hat sie nicht. Fragt sich also, ob jemand, der sich nicht einmal bei einer Bundestagswahl dem Votum der Wähler gestellt hat, somit kein Mandat im Bundestag hat, das höchste Regierungsamt übernehmen darf. Antwort: Ja.
Auch wenn Wahlkämpfe mit Spitzenkandidaten einen anderen Eindruck erwecken: Wähler entscheiden nicht direkt über den Regierungschef. Der wird vom Bundestag gewählt – und das nicht zwingend aus den eigenen Reihen, sondern auf Vorschlag des Bundespräsidenten. Und der kann durchaus auch jemand außerhalb des Bundestages für geeignet halten. In der Geschichte der Bundesrepublik war dies bislang ein einziges Mal der Fall, was aber schon mehr als ein halbes Jahrhundert her ist (Kurt Georg Kiesinger, CDU, 1966). Das inzwischen berühmte „Ich kann …" von AKK wäre somit von der formellen Seite geklärt. Dass sie will, demonstriert sie auch letzten Zweiflern und Kritikern praktisch jeden Tag neu seit Übernahme der Parteispitze. Kurz nach den närrischen Tagen haben prominente SPD-Politiker die Diskussion auf die Agenda gesetzt. Vom eher konservativen „Seeheimer Kreis" bis zu den Jusos erklärten etliche auch ungefragt, für sie käme eine Wahl von AKK im Bundestag nicht in Frage. Dass gleich darauf prominente Unionspolitiker danach gefragt fast unisono erklärten, die Frage stelle sich jetzt nicht, lässt aufhorchen, handelt es sich doch um eine Standard-Formulierung, die nach allen Erfahrungen in der Regel gerade dann gebraucht wird, wenn hinter den Kulissen etwas intensiv überlegt und vorbereitet wird.
„Die Frage stellt sich jetzt nicht"
Für einen politischen Cut im Zeitfenster nach Europa- und vor Landtagswahlen wird derzeit über verschiedene Varianten spekuliert. Eine Variante wäre der vorzeitige Rückzug Merkels und die Wahl von AKK durch die regierende große Koalition. In diesem Fall müsste sich die CDU wohl darauf einstellen, dass der Koalitionspartner SPD Bedingungen für den Fall einer Zustimmung stellen würde, womöglich bis hin zu Verhandlungen über einen neuen Koalitionsvertrag. Wenn Johannes Kahrs, Sprecher des konservativen „Seeheimer Kreises" der SPD, in diesem Zusammenhang Neuwahlen ins Gespräch bringt, kann man das auch als Drohkulisse interpretieren; zumal er den Hinweis ergänzt, die SPD habe schließlich den Koalitionsvertrag mit Angela Merkel abgeschlossen, will heißen: nicht mit einer AKK-geführten CDU.
Bei Lichte betrachtet kann die Variante Neuwahlen eigentlich derzeit zumindest keiner aus dem Koalitionlager mit großem Ernst anstreben. Denn da sind zum einen die Umfragewerte. Die Union dümpelt mit um die 30 Prozent sogar noch unter ihrem bislang historischen Tief bei der letzten Bundestagswahl, für die SPD sind selbst die knapp über 20 Prozent bei der letzten Wahl in einiger Distanz. Und ein nicht zu unterschätzender Punkt ist die Finanzlage. Die Kassen sind seit dem Fiasko der letzten Bundestagswahl leer. Die CDU hatte ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 eingefahren, ebenso die SPD, entsprechend miserabel war die Wahlkampfkostenrückerstattung. Obendrein hätte die CDU kein eingespieltes Wahlkampfteam. Generalsekretär Paul Ziemiak wäre im Sommer nicht mal ein halbes Jahr im Amt, und qua Amt automatisch der Wahlkampfchef. Bei der SPD lässt sich derzeit nicht absehen, mit welchem Spitzenkandidaten oder -kandidatin sie antreten würde. Die seit Monaten desaströsen Beliebtheitswerte von SPD-Chefin Andrea Nahles sprechen eher gegen als für sie. Darum hat sich ja bereits im Januar Bundesfinanzminister Olaf Scholz selbst als Kanzlerkandidaten auf die Spur gesetzt.
Zudem sind beide Parteien, CDU und SPD, derzeit noch mitten in der Suche nach einem klaren Profil. Die CDU steht mit der Arbeit an einem neuen Grundsatzprogramm noch ziemlich am Anfang, die SPD ist zwar bemüht, in einigen Feldern soziales Profil zu schärfen, Abschied von Hartz IV, Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung oder längeres Arbeitslosengeld I sind einige Stichworte, in anderen Politikbereichen fallen die Antworten dünner aus.
Eine dritte Variante für einen möglichen Cut könnte ein Koalitionswechsel (mit Neuwahlen erst zu späterem Zeitpunkt) sein. Den Grundstein für diese Idee legte ausgerechnet FDP-Chef Christian Lindner beim Dreikönigstreffen seiner Partei in Stuttgart. Mit der Wahl von Kramp-Karrenbauer zur CDU-Chefin wäre der Weg auch wieder für eine Jamaikakoalition frei. In der CDU mochte man zunächst seinen Ohren nicht trauen. Anders, als es ähnliche Signale von grüner Seite gab. Auch dort träumt man immer noch von einer Regierungsverantwortung. Allerdings in unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Die alten Grünen, also Katrin Göring-Eckardt oder Cem Özdemir, würden am liebsten sofort regieren, es wäre ihre letzte Chance. Während es das grüne Führungsduo Annalena Baerbock und Robert Habeck nicht so eilig hat. Sie könnten sich auch Neuwahlen vorstellen und auf eine schwarz-grüne Regierung ohne die FDP hoffen. Was nur zu verständlich ist, die Grünen spekulieren bei vorgezogenen Neuwahlen auf gut 20 Prozent.
Die Soll-Bruchstelle der großen Koalition hatten die Partner ohnehin vereinbart, als sie eine Überprüfung der Zusammenarbeit zur Hälft der Legislaturperiode mit dem Koalitionsvertrag verabredet hatten. Insbesondere die SPD brauchte die Überprüfungsklausel bei der parteinternen Abstimmung über die ungeliebte Neuauflage der Groko. Und der CDU war klar, dass ein Wechsel im Blick auf die Nach-Merkel-Ära so erfolgen müsste, dass er Wirkung bis zur (turnusgemäßen) Bundestagswahl 2021 entfalten kann. Das Zeitfenster im Wahljahr 2019 öffnet die Möglichkeit, bereits früher als ursprünglich geplant die Weichen neu zu stellen.