Gewinnwarnungen, Dieselskandal und kein Elektro-Serienfahrzeug mit langer Reichweite. Die deutsche Automobilindustrie rutscht in die Krise. Und die ist hausgemacht, sagt Mario Herger. Er schlägt seit Jahren Brücken zwischen der deutschen Industrie und dem Silicon Valley, wo gerade die nächste Generation von Mobilität entsteht.
Herr Herger, Deutschland ist ein Autoland – wie ist denn die amerikanische Sicht auf die deutsche Schlüsselindustrie im Augenblick?
Das Silicon Valley zahlt im Vergleich zu anderen Regionen in den USA hohe Durchschnittsgehälter, und gleichzeitig fahren viele deutsche Automarken dort durch die Gegend. Da besteht wohl ein Zusammenhang. Das beginnt sich nun mit dem Dieselskandal zu ändern. Denn damit hat die deutsche Autoindustrie, ja die gesamte deutsche Industrie massiv an Vertrauen verloren. Das ist ein Fleck auf dem deutschen Ingenieurswesen, das zuvor auch in den USA immer sehr geschätzt wurde. Man fragt sich jetzt, wo schummeln die noch?
Aber der vielzitierte Dieselskandal allein treibt doch nicht 16 Autokonzerne zu Gewinnwarnungen, wie im vergangenen Halbjahr geschehen.
Ein Korrespondent des britischen Wirtschaftsmagazins „Economist" hat es treffend ausgedrückt: der Tod durch tausend kleine Stiche. Da sind der Dieselskandal. Einbrechende Verkaufszahlen, Gewinnwarnungen. Kein einziges deutsches Elektroauto, das derzeit ernst zu nehmen wäre. Was passiert also hier? Die deutsche Automobilindustrie ist der Primus weltweit, hier wurde das Auto erfunden, es ist das Land mit dem größten Anteil an Autoexporten, die Präzisionsarbeit hat Weltruf. Jetzt aber ist dieser so wichtige Industriezweig hinterher. Und zwar um sieben Jahre hinter der Konkurrenz. Vor sieben Jahren wurde das Tesla Model S vorgestellt. Vor sechs Jahren kam der Model S in den Handel. Heute hat kein deutscher Hersteller ein Modell, das auch nur annähernd die Leistungsdaten eines Model S besitzt. Ja, es sind Fahrzeuge angekündigt. Aber Papier ist geduldig. Ein zweites Thema ist das autonome Fahren. Wir haben ein paar Teststrecken, wo man ein paar Kilometer autonom fahren darf, aber kein Testgebiet. Ein drittes ist die Wertschöpfung – sie wird künftig im digitalen Bereich liegen, und darin hat die deutsche Automobilindustrie keine Expertise. Winston Churchill hat gesagt: „Never waste a good crisis", verschwende keine gute Krise, sprich, man soll sie nutzen. Offenbar ist die deutsche Autoindustrie diesem Spruch noch nicht gefolgt. Das betrifft natürlich auch andere Betriebe dieser Industrie, Zulieferer zum Beispiel.
Haben deutsche Automobilmanager denn jetzt etwas aus der Geschichte gelernt?
Manager aus der Automobilindustrie, die mich besuchen, geben zu, dass sie die Krise bisher nicht genutzt haben. Aber haben sie denn daraus gelernt? Nein, sie sind zu selbstsicher und erfolgsverwöhnt. Autonomes Fahren und Elektromobilität sind disruptive Technologien, das heißt, sie verändern auf radikale Weise eine Industrie, und alle diese Technologien kommen jetzt sogar auf einmal auf die Industrie zu. Man hat in den vergangenen 130 Jahren nicht viel am Produkt Auto ändern müssen. Im Grunde ist es noch heute das Konzept von Carl Benz: ein Motor auf einer Kutsche. Die Qualität, die Ingenieursleistung wurde immer besser, sodass sich Motor und Kutsche heute dramatisch von den damaligen Modellen unterscheiden. Die Erfinder des Autos waren Maschinenbauer, Elektriker, Schlosser und Industrielle in einer Zeit, in der die Transportindustrie eigentlich Pferdezüchter und Wagenbauer verlangte. Der Motor in der Kutsche verlangte ein anderes Kutschendesign, weil ein Kutschenchassis keinen Motor aushielt. Die Weiterentwicklungen im Automobilbereich erfordern heute vergleichbar andere Skills. Die Daimlers, Porsches, Opels und BMWs dieser Welt können hervorragende Motorkutschen bauen, aber sie sind keine Softwarespezialisten. Neue Mobilität wird von Datenunternehmen gemacht. Waymo entwickelt Fahrzeuge für autonomes Fahren – ein Start-up von Google. Byton aus China entwickelt Elektrofahrzeuge – ein Start-up aus deutschen Automanagern und Softwareentwicklern. Tesla sorgt seit vielen Jahren schon für Furore, Elon Musk war Physiker und gründete Paypal mit. Folgerichtig braucht die Automobilindustrie in Deutschland mehr Informatiker, KI-Experten, Robotiker als zuvor.
Ist das aber nicht auch ein psychologisches Problem? Die deutsche Autoindustrie ist mit anderen Werten, mit anderen Technologien groß geworden. Die sind nun scheinbar überflüssig.
Klar, Betriebsräte, Gewerkschafter, Vorstände, alle sind mit dem Auto, bestehend aus Motor, Getriebe, Gummi und Blech, groß geworden. Sie sehen ihren Wissensvorsprung, ihre Arbeitsplätze nun gefährdet durch die Teslas dieser Welt. Da beginnt ein firmeninternes Immunsystem zu arbeiten: Altes muss doch bewahrt werden. Hier bricht eine Welt zusammen, wenn es für einen Arbeiter, 30 Jahre am Band bei einem Getriebehersteller, heißt, Getriebe bauen wir bald nicht mehr. Dein Wissen ist nutzlos. Das ist eine menschliche Tragödie. Umschulen auf die neue Mobilität ist da nicht so einfach möglich, kein Getriebespezialist wird plötzlich Batteriechemiker.
Das klingt pessimistisch. Weiterqualifizierung lautet hier das Schlagwort vieler Digitalisierungsexperten, außerdem Gründungsinitiativen. Wie schätzen Sie Deutschlands Potenzial dahingehend ein?
Nun, nehmen wir mal den Motor als Beispiel. Ein Drittel der Menschen in der Automobilindustrie arbeitet an diesem Antriebsaggregat. Das brauchen wir bald nicht mehr. Ingenieure aus der Automobilindustrie könnten sicherlich in anderen Industrien arbeiten, in denen sie fehlen, Medizintechnik zum Beispiel, und sie könnten eigene Unternehmen gründen. Praktisch hat sie allerdings niemand dazu ausgebildet. Unser Ausbildungssystem zielt darauf ab, einen Job zu behalten, nicht, kreativ und unternehmerisch tätig zu werden. Wir haben in Deutschland, dem Autoland, ein einziges Start-up, das ein eigenes autonomes Fahrzeug entwickelt. In den USA, speziell in Kalifornien, im Silicon Valley, beschäftigen sich 62 Unternehmen damit.
Haben die US-Amerikaner also eher als die Deutschen begriffen, dass es um Mobilität statt ums Auto geht?
Ich sage mal so: Autofahren in Deutschland macht mir keinen Spaß. Die Städte in Deutschland sind historisch gewachsen, das merkt man an der Verkehrsführung, den Parkplätzen. In den USA sind die Städte auf dem Reißbrett entstanden und kommen dem Autofahrer entgegen. Doch selbst dort machen immer weniger junge Menschen den Führerschein, auch in Deutschland. Viele meiner amerikanischen Freunde besitzen kein Auto mehr. Sie fahren mit dem Fahrdienst Uber oder mit Lyft zur Arbeit. Es ist ein größerer Trend: Die „Gig Economy", sprich die vielen Freiberufler, die auf Projektbasis arbeiten, kann sich immer seltener ein eigenes Haus leisten, geschweige denn ein eigenes Auto. Der Trend greift auch in Deutschland um sich, und das müssen auch die Gewerkschaften hierzulande begreifen. Ich komme aus einer sozialdemokratischen Familie aus dem Gewerkschaftsumfeld. Glauben Sie, unter all den Industriedelegationen aus der Autobranche wäre einmal ein Betriebsrat gewesen? Wenn diese Leute nicht verstehen, was gerade passiert, können sie nicht mitarbeiten in der disruptiven Veränderung, die gerade um sich greift.
Was fehlt uns denn in Deutschland, um überhaupt noch mitzuhalten in dieser Entwicklung?
Ambition. Wir sind gut in inkrementeller Innovation, das heißt in Verbesserungen. Aber ein völliger Paradigmenwechsel, da sieht es in Deutschland derzeit schlecht aus. Wir sind kreativ und innovativ, im Silicon Valley arbeiten 60.000 Deutsche, aber das Mindset in Deutschland stimmt an dieser Stelle nicht. Die deutsche Automobilindustrie ist die wichtigste, die mächtigste Industrie in Deutschland, die einen enormen Einfluss auf die Politik hat. Warum also nimmt sie keinen Einfluss auf eine positive Gesetzgebung für autonomes Fahren? Weil sie derzeit noch nicht will. Diese Industrie hat derzeit zu viel zu verlieren und ist deshalb zurzeit zu vorsichtig und geht keine Risiken mehr ein. Kleinigkeiten wären schon hilfreich: Das autonome Fahren ist entstanden, weil in den USA für ein militärisches Forschungsprojekt eine Million Dollar ausgelobt wurde, damit keine Soldaten durch Straßenbomben mehr ums Leben kommen. Heute wird diese Industrie auf 2000 Milliarden Dollar geschätzt.
Aber worin sehen Sie die Vorteile, das Steuer eines autonomen Fahrzeugs aus der Hand zu geben?
Wir sind manchmal unaufmerksam, gestresst, abgelenkt, betrunken, wir bauen Unfälle, dabei kommen Menschen zu Schaden. 3.300 Tote im vergangenen Jahr, 394.000 Verletzte. Zum Vergleich: Das wäre, als würde jede Woche ein Flugzeug mit 100 Leuten an Bord abstürzen. Würden wir das tolerieren? Die Entwicklung einer solchen Technologie ist also wichtig, und technologisch sind wir so weit, das nun einzuführen. Wenn Menschen ein Robotertaxi in einer ähnlichen Weise benutzen wie sie jetzt ihr eigenes Auto benutzen, würden wir zirka zehn bis 30 Prozent der heutigen Fahrzeuge benötigen. Es gibt Simulationen für Lissabon, die besagen, dass für die gleiche Kilometerleistung von heute 200.000 Fahrzeugen in der Innenstadt durch autonomes Fahren nur 24.000 Fahrzeuge benötigt werden. Warum? Weil nicht zu jeder Minute jeder Stadtbewohner unterwegs ist, das sind auch zu Stoßzeiten nur zehn Prozent der Einwohner. In Singapur, mit einer anderen Infrastruktur, bräuchte man 30 Prozent der Fahrzeuge. Es wären also viel weniger Fahrzeuge unterwegs, die aber ständig benutzt würden. Unser Privatwagen steht im Schnitt 23 Stunden am Tag nur herum, in der Garage, auf Parkplätzen. Auch für Pendler ergeben sich Vorteile. Sie könnten sich vielleicht erlauben, statt einer Stunde zwischen Wohnort und Arbeitsplatz zwei Stunden zu pendeln. Denn auf dem Weg könnten sie in Ruhe schlafen, lesen, ein Spiel spielen oder schon ein bisschen arbeiten, während der Wagen lenkt und fährt.
Der Titel Ihres Buches lautet „Der letzte Führerscheinneuling ist bereits geboren". Wann steigt der in sein autonomes Fahrzeug ein?
Die Entwicklung wird so rasch voranschreiten, dass wir, ich denke so um 2030, 2035 herum keine manuell gesteuerten Autos mehr auf den Straßen vorfinden.
Und wo steigen Sie zu Hause ein?
Derzeit noch in einen fünf Jahre alten Volvo. Meine Frau fährt seit einem Monat einen Tesla Model 3.