Als Karl Lagerfeld krankheitsbedingt auf die Teilnahme an der Haute-Couture-Show von Chanel im Januar verzichten musste, rückte Virginie Viard erstmals in den Blick der Öffentlichkeit. Nach Lagerfelds Tod wurde sie mit dessen Aufgaben betreut, ohne jedoch offiziell zur Kreativ-Direktorin deklariert zu werden.
Jahrelang war über potenzielle Nachfolger von Karl Lagerfeld als Kreativ-Direktor von Chanel heiß diskutiert worden. Das Pariser Traditionshaus unter Leitung von Alain Wertheimer, das als eines der wenigen Haute-Couture-Labels noch immer in Privatbesitz ist, hatte sich niemals zu den wilden Personal-Spekulationen geäußert. Lagerfeld selbst hatte Nachfragen zur Chanel-Erbfolge mit dem Hinweis hinweggefegt, dass alles mit ihm begonnen habe und mit ihm enden werde.
Das dem nicht so sein würde, dürfte bei Chanel von langer Hand strategisch voraus geplant worden sein. Denn in einem nur für die Öffentlichkeit überraschenden Coup hatte Wertheimer eine hausinterne Lösung aus dem Hut gezaubert und mit Virginie Viard die bisherige Chanel-Ateliers-Directrice, so der offizielle Titel, oder Studioleiterin mit den Lagerfelds Aufgaben betraut, an dessen Seite sie seit 1987 tätig war und der sie als seine engste, vertrauensvollste Mitarbeitern sowie als seine „rechte und linke Hand" bezeichnet hatte.
Hiesige Massenmedien und Boulevardblätter deklarierten die in Dijon geborene, dunkelhaarige Französin, die ähnlich wie Karl Lagerfeld bislang nur nebulöse Angaben zu ihrem Alter gemacht hat, 1962 und 1969 sind die dabei meistgenannten Geburtsjahre, als neue Chanel-Kreativ-Direktorin. Ohne auf die sprachlichen Feinheiten zu achten, die bei ihrer Ernennung durch Alain Wertheimer durchgeschimmert waren. Denn der Chanel-Boss hatte dabei offenbar ganz bewusst den offiziellen Titel „Directrice Créative" vermieden und nur unverbindlich bekannt gegeben, dass Madame Viard die kreative Aufgabe des Entwurfs der kommenden Kollektionen übernehmen werde, weil damit am besten das Erbe von Coco Chanel und Karl Lagerfeld bewahrt und lebendig erhalten werden könne.
Virginie Viard hatte nach dem Abitur ein Studium an der Modeschule Le Cours Georges in Lyon und anschließend ein Praktikum bei der legendären französischen Fashion-Ikone und Designerin Jacqueline de Ribes absolviert. Dass Viard nun nur eine Übergangslösung sein könnte, wäre bei Chanel nichts Ungewöhnliches. Schließlich hatte man sich nach dem Tod der Gründerin Coco Chanel im Jahr 1971 zwölf Jahre lang Zeit gelassen, bevor man mit Karl Lagerfeld 1983 wieder offiziell einen Kreativchef installierte. Viard, deren Großeltern mütterlicherseits in Lyon als Seidenfabrikanten tätig gewesen waren, kann als Designerin noch keinerlei Erfahrung vorweisen.
Viard tritt privat unkonventionell auf
Lediglich in ihrer früheren Profession als Kostümbildnerin, diesen Beruf hatte sie ab 1974 als Assistentin von Dominique Borg erlernt, konnte sie einige beachtliche Erfolge durch das Entwerfen von Roben für bekannte französische Filmproduktionen erzielen. Ob das als Befähigungsnachweis für die dauerhafte kreative Leitung eines Hauses wie Chanel als ausreichend angesehen werden kann, können letztlich nur die Eigentümer der Marke entscheiden.
Viards eigentliches Pfund dürfte ohnehin sein, dass sie gewissermaßen die Chanel-DNA im Blut hat. Nach mehr als 30 Jahren an Lagerfelds Seite kennt sie die Marke wie kaum jemand anders in- und auswendig. Womöglich will man es mit ihr einfach mal versuchen, ihr eine Probezeit in der Rolle als Kreativchefin geben, und dabei beobachten, ob sie den gewaltigen Sprung von der Ateliers-Directrice zur Directrice Créative schaffen kann. Bislang bestand ihre Aufgabe bei Chanel darin, die zweidimensionalen Entwurf-Skizzen ihres Chefs in Zusammenarbeit mit den rund 200 Näherinnen des Hauses in dreidimensionale Kleiderträume zu verwandeln und dabei die Gedanken und Vorstellungen Lagerfelds möglichst perfekt zu interpretieren. „Ich erwecke die Kollektionen zusammen mit den Ateliers zum Leben, basierend auf den Zeichungen von Karl", sagt Viard.
Dabei hatte sie bei immerhin acht Kollektionen pro Jahr alle Hände voll zu tun ‒ Prêt-à-Porter, Haute Couture, Cruise und Métiers d’Art. Ab sofort wird von ihr erwartet, für diese Kollektionen eine eigene kreative Handschrift nachzuweisen.
Fraglos eine große Herausforderung für die Frau in den Fünfzigerin, die sich privat meist ziemlich unkonventionell in rockiger Kluft samt Designerjeans (häufig von Stella McCartney), Vintage-T-Shirts oder ungezähmter Pony-Frisur samt schulterlangen Wellen präsentiert. Aber wer es wie sie von einer kleinen Assistentin für Taschen und Handschuhe in ihren Chanel-Anfängen innerhalb von gerade mal vier Jahren zur Koordinatorin der Haute Couture geschafft und sowohl bei Chloé (1992 bis 1997, auch hier in Zusammenarbeit mit Lagerfeld) als auch bei Chanel die Funktion der Studioleiterin so perfekt ausgeübt hat wie Virginie Viard, dem ist schon einiges zuzutrauen. Zumal sie Lagerfelds modische Visionen bestens kennt und daher die Geschicke des Labels zunächst einmal auf dessen Spur und in dessen großen Fußstapfen weiter lenken kann. Eine sichere Konstante, was treue Käuferinnen der Luxusmarke sicherlich zu schätzen wissen werden.
Die freie Zeit mit ihrer Familie dürfte für die in Paris mit Partner Jean-Marc Fyot, einem Musik-Produzenten, und Sohn Robinson lebende Viard künftig eng bemessen sein. Aber womöglich haben die Chanel-Bosse ja auch schon weitsichtig einen anderen, eventuell kurzfristig nicht verfügbaren Kandidaten für den Kreativposten ins Auge gefasst. So wäre es umso einleuchtender, dass man die offizielle Ernennung zur Directrice Créative vermieden hat. Eine Rückstufung von Virginie Viard, die nach eigenem Bekunden das Rampenlicht hasst und in einem kleinen burgundischen Weindörfchen namens Fixin als eines von fünf Kindern eines Mediziner-Ehepaares aufgewachsen war, könnte man sich damit sparen, und die langjährige Mitarbeiterin könnte, womöglich wieder als Studioleiterin, dem Hause erhalten bleiben.