Mit gerade einmal 36 Jahren gehört Vitus Winkler zu den absoluten Stars der österreichischen Küche. Er versteht es, seine Heimat in eine kulinarische Bühne zu verwandeln und Altbewährtes wiederaufleben zu lassen. Ein Besuch vor Ort.
Wenn Vitus Winkler nicht gerade durch die nahen Wälder und Hochebenen des Pongaus streift und Schwammerl, Vogelbeeren oder Fichtenwipferl sammelt, findet man ihn als „Essensmacher" in seinem Kochrefugium „Vitus Cooking". Seit gut drei Jahren leiten der mit drei Hauben Prämierte und seine Gattin Eva-Maria den elterlichen „Sonnhof" mit Restaurantbetrieb in vierter Generation. Mit dem Gourmet-Anbau, gleich neben der gemütlichen Original-Gaststube von anno dazumal, hat er sein Fine-Dining-Restaurant nach seinem Gusto angebaut. Der Graustich der sonnengebleichten Bauernstadel-Althölzer und des matten, weißen und blauen Rauriser Natursteins wirken „edel by nature".
Der minimalistische Stubenraum passt zur Kochsprache: So raffiniert und aufs Feinste ausgeheckt Winklers Kreationen auch sind, so nahbar und ehrlich liegen sie vor dem Auge des Betrachters auf dem Teller. Ein sensibler Gast spürt die Intention. „Meine Visionen werden von der Natürlichkeit der Produkte gesteuert", sagt der Mittdreißiger, der auf seinen wöchentlichen Forstgängen bis zu 100 geheime Stellen kennt. Die Natur sei nun mal der beste Qualitätslieferant.
Auf jeden Fall scheint Vitus Winkler seine Lebensformel gefunden zu haben. Die Gleichung lautet: „Wurzel hoch Inspiration". Das Koch-Gen habe er „intravenös" von der Urgroßmutter geerbt, die 1928 als autarke Frau ihrer Zeit die Schaffensstätte im Pongau gegründet hatte und dort traditionell kochte. Mutter Rose-Marie war selbst Haubenköchin. Den Speed hat Vitus vom Weltcup-Ski-Vater Ernst. Im Rahmen seiner Ausbildung durchschritt der Sohn alle klassischen Stationen: Besuch einer Hotelfachschule und Küchenpraxis in Vier- und Fünf-Sterne-Betrieben. Den Zauber seiner Heimat – den Pongau – hat der Naturliebhaber aber erst nach mediterranen Stationen auf Mallorca und Korsika und seinen Reisen bis zum anderen Ende des Globus wie nach Neuseeland oder Marokko erkannt.
Natur liefert die beste Qualität
Wie Alchimisten oft so sind, verquicken sie dann mutig Welterfahrung mit Althergebrachtem am eigenen Herd. Mittlerweile hat er sich zum „Wilden Newcomer of Austria" entpuppt und wurde just von der Salzburgerland Tourismus GmbH zum „Markenbotschafter Naturraum Wald" 2019 gekrönt. Er versteht es, seine Heimat in eine kulinarische Bühne zu verwandeln und Altbewährtes wiederaufleben zu lassen. Sein Team, das aus allen Ecken Österreichs zu ihm gefunden hat, ist ihm die wichtigste Stütze. Auf dem Teller und für den Gast ist er Geschichtenerzähler – die Sprache klar und bildhaft.
Seine Überraschungs-Menüs und à-la-carte-Gerichte präsentieren sich ebenso raffiniert wie unprätentiös. Allzu erdende Aromen erhellt der Pongauer Weltenbürger mit sonnigen Agrumen oder der vornehmen Säure eines ortsnahen Weins wie dem Blaufränkischen, ungarischen Homola (2015) oder einem Furmint (Gorca 2016) aus der „Slowenischen Steiermark". Als gelernter Sommelier hat Winkler beim Weinangebot gern die Sonne regionaler Trauben im Glas. Sein Weinberater Felix Kanton – ein Wahlösterreicher aus Leipzig – präsentiert den Gästen an die 50 Weine aus Österreich und den angrenzenden Alpenraum-Ländern Ungarn, Tschechien und Slowenien (Südsteiermark) sowie Norditalien, dem Piemont und Friaul. Die stehen mit ein paar wenigen, international gängigen „Weltenbummlern" gut sichtbar im gläsernen Wandregal gleich neben dem Gastraum. Bis Vitus im hauseigenen Garten wieder sein Bouquet aus 70 Kräutersorten ernten kann, findet sich im Winter ein Pöttchen Kresse auf dem Tisch. Die „wächst" in einer unter Pilzerde ruhenden Bärlauch-Creme. Mit einer güldenen Designschere schneidet sich der Gast das Büschelchen zurecht. Winkler liebt den Frühling und schätzt die Winterzeit. Die zelebriert er auf seinen meditativen Waldgängen durch den winterlichen Wald – sein Raum für Ideen.
So schwimmt nach so einem Gang ein hausgebeizter Saibling in einer gesäuerten Gurkenponzu (japanisch mit Limette) – ein als „Winterlicher Bach" betiteltes Entrée. Der Clou: ein auf Kiesel gelagerter „essbarer Stein" aus mehrfach gebackenem Brotteig. Die weiße Tomaten-Espuma wird als „Schnee" eingespritzt. Hart erwartet, schmelzig weich erfahren. Und dann gibt’s noch einen ordentlichen Rieb von „g’schmackigen Pinzgauer Schotten" obenauf. Den raren Räucher-Reibekäse stellt Winkler nach altem Rezept aus Kuhmilch und Essig her. Der schmeckt nach zartem Speck und Parmesanflaum – noch besser als Trüffel.
Winkler kocht Erinnerungen
Wenn dann ein ganzer Reigen von „Gueule-Amusement" auf dem Tisch positioniert wird, ist das Hauben-Überraschungsmenü eröffnet. Als winterlicher „Alpe Adria"-Einstieg findet sich da eine Wildkräuter-Waldbuchtel mit Rote-Bete-Butter-Bällchen und „Rösler Staub von der Gartenreb". Bei Letzterem handelt es sich um ein Weinblatt der 80 heimischen Rebstöcke, die in homöopathischer Dosierung pulverisiert wurden. Dazu gesellt sich ein ellenhohes Zuckerwattewölkchen: Der „Olivenbaum" dient als Geschmacksträger für einen Hauch von Thymian-Öl. In der Mitte sorgt die schwarze Trockenolive für den aromatisch herben Abgang. Wenn die Sauerrahmperle auf dem Rotkraut-Cracker dann unerwartet den Gaumen kickt, ahnt man es schon: Herr Vitus beginnt, sein Spielfeld aufzurollen.
Raffiniert und ein wenig archaisch der „Räuchergarten". Dabei versteckt sich eine auf Heu gebettete und in Alpenblütenstaub gewälzte Ziegenfrischkäsepraliné mit Blutorangenkrönchen in einem Holzkästchen. Die Performance: Das Heubettchen wird höchstpersönlich vom Chef entzündet, der Deckel geschlossen, das Praliné expressgeräuchert.
Alle Gerichte tragen Namen von Naturszenarien wie zum Beispiel „Rübengarten", „Frühlingserwachen" oder „Waldspaziergang". Das ganze Jahr ist auf dem Teller: Durch Eingewecktes und Fermentiertes aus dem üppigen Herbst wird der Winter überbrückt. So war’s ja früher auch.
„Die Vogelmiere aus dem eigenen Garten wird vor der Verwendung eingefroren, damit die Bitterstoffe rausgehen. Die schöne Säure ist ganz unverstellt", verrät Vitus Winkler. Als orangene Beere akzentuiert sie das „Goldene Ei", das eine Stunde bei 62 Grad gekocht wird und eine sehr spezielle, weich-mundige Konsistenz besitzt. Roter Grünkohl in verschiedenen Konsistenzen, eine falsche Feder aus Dinkel-Bisquit und geklärter Hühnertee umgeben es. Ein bisschen Gold und ein Löffelchen Kaviar von Fischzüchter Grüll in Grödig bei Salzburg heben das Ei auf die nächste Ebene und erschaffen ihm ein visuell erfahrbares Vogel-Universum. Essen sollte ja auch immer zum Assoziieren einladen.
Vitus kocht Erinnerungen: In vielen Gerichten sind „Raviolos" integriert – gefüllte Teigtascherl, die er nebst der fingerfertigen Kunst des „Grandelns" (zackenartiges Zusammendrücken der Teigränder) von Oma kennt. Übersichtlich in Sternanisbutter geschwenkt oder mit Schafskäse vom Wolfgangsee auf Karotte und eingelegtem Kürbis gebettet, tauchen sie in vielen „VW-Kompositionen" auf. Für Kontrast sorgt der schwarze Sesam, für Leichtigkeit der Zitronen-Thymianschaum nebst Basilikum-Getröpfel.
Neues Buch im Oktober
Wieder thront hier eine geeiste Perle aus Schafsjoghurt. Diese Überraschungs-Gaumenaufwecker passieren auch als Zwischengang in Form eines Schwarzbeeren-Sorbets mit eingelegtem Fichtenwipferl und Latschenkieferzucker. Adrett auf Moos serviert, neutralisieren sie den Gaumen vor dem Hauptgang „Wilder Pongau": ein Reh, das als Ossobuco das Geschmacksbild durchschreitet – garniert mit Topinambur-Mousse, Pilztascherl und schwarzen eingelegten Walnuss-Tranchen. Beim „Süßen Steinbruch" liegt ein freundlicher, mit Mohn gestreuselter Germ-Knödel auf einer „Schieferntafel" aus pulverisierten Tannennadeln. Auch hier darf man beherzt knabbern – ohne Zahnverlust. Vitus Winkler will mit diesem Heimatstück im Gourmet-Theater emotional berühren. Jedes Überraschungsmenü wird auch mal spontan auf den Gast zugeschnitten – mit dem, was aus der Natur, Wald und Garten, frisch oder fein konserviert zur Verfügung steht.
Dass Kochen auch Verantwortung bedeutet, will Vitus Winkler über seine Kochkurse (mit Kräuterwanderungen) und Bücher für die Nachwelt vermitteln. Im Oktober erscheint sein zweites Buch über alpine Küche und Kräuter mit Gesundheitsaspekt. Falsche Werte gehen schnell dahin. Aber die Liebe zur Heimat hat Bestand.