Wenn Hervé Atamaniuk in seiner Kindheit Mundart redete, wurde er bestraft. Heute setzt sich der Kulturbeauftragte von Saargemünd mit dem französisch-saarländischen Festival „Mir redde platt" leidenschaftlich für das Lothringer Platt ein – und hat dazu auch eine eigene Musikgruppe gegründet.
Das Büro von Hervé Atamaniuk sieht nicht aus wie ein typisches Zimmer in einem durchschnittlichen Verwaltungsgebäude. Die Wände sind bis unter die Decke tapeziert mit Plakaten und Bildern. Wie ein großes, buntes Mosaik wirken die unterschiedlichsten Poster, von denen die meisten Veranstaltungsplakate von Events sind, die in den letzten Jahren in und um Saargemünd stattgefunden haben. Das hat natürlich seinen Grund, denn Atamaniuk ist Kulturamtsleiter in der Mairie von Saargemünd, und sein Büro lässt keinen Zweifel daran: Hier geht es um Musik, Kunst und Kultur, und Atamaniuk ist der Verantwortliche der Gemeinde, der plant, organisiert und finanziert. Ein Plakat direkt hinter seinem Schreibtischstuhl fällt dabei gleich ins Auge. Groß ist zu lesen: „Mir redde platt" – wir reden Mundart. Und wer Atamaniuk kennt, weiß, dass in genau dieser Veranstaltung womöglich etwas mehr von seinem Herzblut steckt als in den übrigen. „Mir redde platt" findet seit mehr als 20 Jahren in Saargemünd und dem angrenzenden Saarland als Veranstaltungsreihe statt. Dreh- und Angelpunkt ist die Lothringer Mundart, die eng verwandt ist mit dem Moselfränkischen und dem Rheinfränkischen, wie es auch im Saarland gesprochen wird. Für Atamaniuk ist das Mundartfestival nicht nur Beruf, es ist auch eng mit seinem Leben verknüpft. Mittlerweile ist er seit 16 Jahren dafür verantwortlich. Als er 2002 seine Stelle in Straßburg aufgab, um wieder zurück in die alte Heimat zu kommen, spielte das Festival eine entscheidende Rolle dabei.
Dialekte sind am Aussterben, von Generation zu Generation nimmt die Zahl der Sprecher immer mehr ab. Besonders in Frankreich liegt das laut Atamaniuk nicht zuletzt an der aggressiven Sprach- und Kulturpolitik, die es dort bis in die 80er-Jahre gab. Atamaniuk ist 1961 geboren, in den 60er- und 70er-Jahren war er selbst Schüler und erinnert sich vor allen Dingen an einen Satz noch ganz genau. Und die Erinnerungen, die er daran hat, sind keine positiven. „C’est chic de parler français." – „Es ist modern, Französisch zu sprechen". Atamaniuk ist gewiss nicht der einzige Schüler, dem dieser Ausspruch in Erinnerung geblieben ist. Französisch war also chic. Ganz und gar nicht chic hingegen war der Dialekt, den die Kinder von zu Hause mitbrachten. Ihre eigentliche Sprache, die Mama, Papa, Oma und Opa sprachen, das Kommunikationsmedium des Alltags, sollte aus der Schule und dem öffentlichen Leben verbannt werden. „Es war verboten, in der Schule platt zu schwätzen", erinnert sich Atamaniuk. Beim Interview spricht er heute Lothringer Platt, und er profitiert beim deutsch-französischen Dialog davon, dass seine Muttersprache, wie er sie nennt, eben genau den Mundarten stark ähnelt, die im Saarland gesprochen werden. So wird er auch jenseits der Grenze verstanden. Wer allerdings damals in der Schule beim Dialektsprechen erwischt wurde, wurde dafür bestraft. Atamaniuk erinnert sich noch genau: „Wer erwischt wurde, bekam einen roten Stock oder einen roten Knopf." Egal ob auf dem Schulhof oder im Klassenraum. Wenn einer den anderen ertappte, konnte er den Stock selbst loswerden und an den nächsten Delinquenten weitergeben. Wo der Stock am Ende des Schultages blieb, da hieß es Strafarbeit. C’est chic de parler français. Ein Satz. 100-mal schreiben. Bis zum nächsten Tag. „Beim ersten Mal war das noch lustig", sagt Atamaniuk, danach habe man sich aber tunlichst darum bemüht, nicht mehr erwischt zu werden.
Dialekte sind am Aussterben
Ob es an den Bemühungen des Staates lag oder an der generellen Entwicklung von Gesellschaft, Kommunikation und Kultur, lässt sich nicht scharf unterscheiden. Klar ist jedenfalls, dass die Zahl der Dialektsprecher immer weiter abnimmt. In Frankreich wie in Deutschland. Dialekte sind Varietäten einer Sprache, die räumlich begrenzt gesprochen werden. Sie haben also keine besonders hohe kommunikative Reichweite, sondern sind oft nur die Sprache einer relativ kleinen Sprechergruppe. Obwohl Mundarten oft älter und traditionsreicher sind als die jeweilige Hochsprache eines Landes, geraten sie immer mehr ins Abseits. Hochsprache ist angesagt; wer einen Dialekt spricht, gibt sich als Landei aus der Provinz zu erkennen. Atamaniuk weiß das, und genau diesem Trend möchte er entgegenwirken. Einerseits will er mit seinem Engagement für das Lothringer Platt unterstreichen, dass es auf dem Land auch Wertvolles gibt. Besonders das Lothringische Kohlerevier, das seine Heimat ist, soll nicht als kulturfreier Raum gesehen werden. Seit den 80er-Jahren will er deshalb die Mundart entgegen aller Bestrafungen aktiv wieder beleben. Damit folgt er einem Trend, der sich in Frankreich seit den 70er-Jahren quasi als Gegenbewegung zur Pariser Sprachpolitik entwickelt hat. Künstler wie Alain Stivell in der Bretagne oder Roger Siffer im Elsass fingen an, Volkslieder und auch eigene Lieder in ihrer Mundart zu singen, und wurden damit erfolgreich. Das imponierte Atamaniuk, damals Student, so sehr, dass er gemeinsam mit seinem Bruder und zwei befreundeten Musikern die Gruppe Schaukelperd ins Leben rief. Ziel der Gruppe ist es auch heute noch, alte Mundartlieder wieder neu zu interpretieren. Atamaniuk erinnert sich an die ersten Schritte: „Da haben wir dann angefangen, erst mal im Familienkreis die Leute zu fragen. Du kommst zur Oma oder fragst den Onkel: ‚Kennscht du Lieder in platt?‘ Und so haben wir die Lieder notiert und haben sie nachher auf der Bühne gespielt." Bei einigen Zuhörern kamen ihre Auftritte damals gut an, bei anderen weniger. Da die lothringische Mundart nicht überall beliebt ist und als die Sprache der „Boches", also der „deutschen Idioten", der Kriegsbesatzer und Unterdrücker, wahrgenommen wird, fielen die Reaktionen nicht immer positiv aus. „Für eine bestimmte Generation war das die Sprache und Kultur, die man ablehnte", sagt Atamaniuk. Dabei sei diese Sprache schon viel älter. Die Folkgruppe ist auch heute nach fast 40 Jahren in leicht veränderter Besetzung noch mit viel Elan und Witz aktiv. Negative Reaktionen gebe es glücklicherweise kaum noch. Die Brüder Atamaniuk geben „Schaukelperd" ein vielseitiges Gesicht. Hervé spielt Drehleier, Psalterion, Flöte und singt. Sein Bruder Didier, im wahren Leben Lehrer, spielt Geige, Flöte und singt ebenfalls. Michael Geib und Roland Helm ergänzen die Gruppe aktuell an Gitarre und Gesang.
Die Sprache der Kriegsbesatzer
Als Motor für sein Engagement, heute wie damals, sieht Atamaniuk seine eigene Geschichte. „Mein Name sagt es schon: Atamaniuk ist ein ganz typischer lothringischer Name. Lothringen kann man als Industrieland sehen, da kamen Leute von überall her als Arbeiter." Das war um das Jahr 1910 herum. Herkunftsländer der Zuwanderer waren die Ukraine, Polen oder Serbien. Auch Atamaniuks Großvater ist aus Osteuropa gekommen und hat sich im lothringischen Kohlerevier niedergelassen. Er war nicht nur zum Arbeiten dort, sondern natürlich auch, um dort zu leben, und das bedeutete, dass er auch die Sprache lernte. Das war in diesem Fall aber nicht unbedingt Französisch, sondern vor allen Dingen das Platt. „Mein Großvater war Bergmann. Der konnte Ukrainisch, der konnte Polnisch, der konnte aber auch Platt", erinnert sich der Enkel. Schließlich war die Sprache der Grubenarbeiter und der Einheimischen nicht Französisch, sondern eben die Mundart. Die Verbindungssprache, wie Atamaniuk es nennt. Sozusagen der kleinste gemeinsame Nenner.
Hervé Atamaniuk erinnert sich etliche Generationen später selbst an ein Schlüsselerlebnis. Als er vor 30 Jahren gegen das Atomkraftwerk in Cattenom protestierte, waren dort auch Demonstranten aus Luxemburg, dem Saarland und Rheinland-Pfalz. Der Franzose stellte fest, dass er sich mit allen in seiner lothringischen Muttersprache unterhalten konnte. Genau diese Erfahrung rund um die grenzübergreifenden Vorteile und verbindenden Elemente, die Mundart haben kann, will Atamaniuk in den Mittelpunkt stellen und klar machen. Beim Festival „Mir redde Platt" geht es deshalb nicht nur darum, Konzerte oder Lesungen in Mundart zu organisieren, bei denen der Zuhörer passiv bleibt. Vielmehr soll auch durch pädagogische und interaktive Projekte das Bewusstsein für die gemeinsame Sprache geweckt werden. Vor allen Dingen bei der jungen Generation.