Der Neurobiologe Gerald Hüther glaubt, dass uns nur neue Formen des Zusammenlebens retten können. Ein Interview über zwischenmenschlichen Umgang und die Zukunft der Arbeit.
Herr Hüther, Sie sind Neurobiologe und beschäftigen sich mit neuen Formen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens. Wie sind Sie dazu gekommen?
Mit zwölf Jahren habe ich einen Jungen kennengelernt, der sich verlaufen hatte. Auf dem Weg zum Bahnhof hat er mir die Augen geöffnet, für alles, was lebt und wächst. Der Laubsänger, das Rotkehlchen, die Kaulquappen. Diese Begebenheit hat mich auf die Spur gesetzt, Biologe zu werden.
Als ich als Biologe versucht habe, in Gemeinschaften Erkenntnisse in die Welt zu bringen, habe ich gemerkt, wie die Menschen sich gegenseitig behindern. Ein Wissenschaftler versucht dem anderen den Ruhm abzujagen. Ich war enttäuscht, dass Biologen unterwegs sind, denen ihre Eitelkeit wichtiger ist als das Lebendige. Deshalb habe ich nach Möglichkeiten gesucht, wie es anders gehen kann.
Warum, glauben Sie, brauchen wir so dringend neue Formen des Zusammenlebens?
Wir haben in der Vergangenheit Arten und Weisen des Zusammenlebens, des Lernens und des Arbeitens entwickelt, bei denen wir uns gegenseitig behindern, ausgrenzen und in Konflikte bringen. Die Frage ist, ob Gemeinschaften ihr Verhalten so verändern können, dass es konstruktiv wird und zur Potenzialentfaltung beiträgt.
Wie kann dieses Zusammenleben konkret aussehen?
Die wichtigste Voraussetzung ist, dass ein Mensch das Gefühl hat, selbst Gestalter seines Lebens und gleichzeitig in einer Gemeinschaft aufgehoben zu sein. Nur so kann man aus Angst, Stress und Unsicherheit befreit werden.
Wie wollen Sie diese Bedingungen genau erreichen?
Wir begleiten verschiedene Teams, Unternehmen, Kommunen und Lebensgemeinschaften auf dem Weg dorthin. Dazu lassen wir von der Gemeinschaft eine Person ernennen, die alle respektieren und mit der wir dann arbeiten. Das Wichtigste ist, dass die Mitglieder einer Gemeinschaft ein Anliegen finden, das allen am Herzen liegt. Wenn man ein solches Anliegen hat, ändert sich die Einstellung automatisch. Die Mitglieder unterstützen sich und haben das Gefühl, die anderen sind an ihrer Entfaltung interessiert, denn sie brauchen einander ja. Als Nebenprodukt solcher Gemeinschaften kommen Leistungen zustande, die der Gemeinschaft bis dato niemand zugetraut hat.
Aber das wird nicht immer funktionieren, oder? Oft hat sich ein Verhalten ja über lange Zeit herausgebildet und so bestanden.
Es funktioniert bisher, wenn sich die Mitglieder auf ein gemeinsames Anliegen einigen können. Was stimmt: Es gibt Gemeinschaften, die unfähig sind, sich auf ein solches Anliegen zu einigen. Dann sagen wir ihnen, sie müssen so weitermachen wie bisher. Lehrer-Teams etwa sind eine sehr schwierige Klientel, da scheitere ich regelmäßig. Ich beobachte, dass manche Menschen sich nicht auf ein Anliegen festlegen können, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen dann andere Optionen nicht mehr offenstehen.
Ihr aktuelles Buch heißt „Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft." Was haben diese Formen des Zusammenlebens mit Würde zu tun?
Überall, wo sich Menschen als Objekte behandeln, sind sie würdelos. Menschen müssen das Gefühl haben, wertgeschätzt zu werden. Sie müssen sich als Subjekte erfahren, die selbst über sich bestimmen können.
Potenzialentfaltung ist aber nicht nur Erfüllung moderner Bedürfnisse, sondern hat auch einen globalen Nutzen.
Wir leben in dem Glauben, dass jeder Mensch ein Einzelwesen ist und selbst versuchen muss, ein Leben zu führen, das ihn weiterbringt. Neurobiologisch ist das ein Trugschluss. Wir brauchen andere, wir könnten ja nicht mal laufen oder reden ohne sie. Mit das Schmerzvollste, was man einem anderen Menschen zufügen kann, ist das Gefühl, er sei nicht richtig so wie er ist. So wird er zum Objekt von Erwartungen, Belehrungen, Bewertungen und Maßnahmen anderer. Weil diese Erfahrung im Kontext mit anderen passiert, ist sie nicht individuell heilbar, sondern muss in der Gemeinschaft positiv korrigiert werden.
Potenzialentfaltung dient aber auch dazu, gemeinsam Lösungen zu finden, auf die man allein nicht kommen würde?
Ja, es braucht eine sogenannte individualisierte Gesellschaft – auf jeden kommt es an, aber es geht nur gemeinsam. Die Welt ist mittlerweile so kompliziert geworden, dass Einzelne keine Lösung dafür haben. Auch Einstein hätte keine Idee, wie er unsere Probleme und Konflikte lösen sollte. Deshalb müssen Menschen mit unterschiedlichen Expertisen aus unterschiedlichen Kulturkreisen in einem co-kreativen Prozess nach gemeinsamen Lösungen suchen.
Dann müssten diese Menschen nach Ihrer Idee aber auch ein gemeinsames Anliegen definieren, oder?
So einfach kann man das sagen. Wenn sich die Menschen dieser Erde einig wären, was sie auf diesem Planeten wollen – und sei es nur die Verantwortung zu übernehmen, für das, was hier über Jahrmillionen an Lebendigem entstanden ist – dann könnten sie keinen einzigen Tag so weitermachen, wie im Augenblick. Was wir erleben, ist kein technisches Problem, sondern ein mentales. Uns fehlt das Bewusstsein dafür, was wir eigentlich wollen. Wer will ich als Mensch sein und wofür will ich auf der Erde da sein – das fragen wir nicht. In diese Orientierungslosigkeit stößt die Wirtschaft und gibt die Richtung vor: Maximierung von Gewinn und Vermeiden von Verlusten.
Sie haben mal gesagt, dass der Mensch für Geld arbeite, sei die dümmste Idee, die wir je hatten. Erklären Sie uns das bitte!
Wir arbeiten seit 200 Jahren für Geld. Aber seit es Menschen gibt, sind sie immer tätig gewesen, haben Dinge hergestellt und ausgetauscht. Um das zu erleichtern, wurde das Geld eingeführt. Entstanden ist eine Situation, in der auch die Arbeitskraft des Menschen in Geld umgerechnet werden kann. Da beginnen Kapitalismus und Industriegesellschaft, Tätigsein und Produzieren wird zur Lohnarbeit, und die Mutter, die zu Hause Kinder großzieht, bekommt kein Geld. Damit verschwindet die Wertschätzung und das dient nicht unserer Weiterentwicklung.
Jetzt werden sicher einige Leser denken, dass es Gründe gibt, warum der Kapitalismus sich durchgesetzt hat und dass die Welt eben über Wettbewerb, über Belohnung und Bestrafung funktioniert. Was sagen Sie denen?
Die Welt hat auch die ganze Zeit so funktioniert, war hierarchisch und über Belohnung und Bestrafung organisiert. Die Menschen, die unten waren, haben sich angestrengt und Neues erfunden, um nach oben zu kommen. Jetzt haben wir eine Welt, die digitalisiert und hochkomplex ist, und in dieser Welt funktioniert die Hierarchie nicht mehr. Was wir jetzt erleben, ist die größte Transformation in der Menschheitsgeschichte seit der Sesshaftwerdung.
Was denken Sie denn, wie werden wir in Zukunft arbeiten?
Es werden in Zukunft nur noch die Menschen arbeiten, die gern arbeiten. Denn jede Arbeit, die man nur für Geld macht, kann man aufschreiben und planen. Das bedeutet, man kann es in Algorithmen packen und einem Roboter beibringen. Das geht beim Gärtner genauso wie beim Operateur.
Aber das ist ja keine Zwangsläufigkeit, kein Naturgesetz. Die Zukunft unserer Arbeit ist doch nicht nur eine Frage von technischen Möglichkeiten, sondern auch eine Frage von Werten. Also, wollen wir zum Beispiel, dass ein Roboter uns operiert? Das ist ja zum jetzigen Zeitpunkt noch lenkbar.
Prinzipiell ist das richtig. Aber die Praxis zeigt uns, dass es nicht so ist. Schon heute arbeiten viele Menschen wie Roboter. Das Prinzip von oben funktioniert nicht mehr, wir müssen Menschen stärken, damit sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Sie selbst haben über 20 Bücher geschrieben, Sie halten Vorträge, coachen Führungskräfte, haben die Regierung in Bildungsfragen beraten, an der Universität gelehrt, sind Gast in Fernsehsendungen – worauf führen Sie Ihre eigene Potenzialentfaltung zurück?
Man kann Potenzial entfalten, indem man seinem eigenen Leben einen Sinn verleiht. Mich treibt, dass ich mich als Junge in die Vielfalt des Lebendigen verliebt habe. Ich kann nicht aushalten, dass eine vorrübergehend irregeleitete Spezies dabei ist, diesen Planeten zugrunde zu richten. Das ist mein Anliegen, und deshalb versuche ich, den Menschen zu helfen, zu sich selbst zurückzufinden.
In einem Fragebogen der „FAZ" haben Sie angegeben, dass Sie mit 18 weniger wollten als heute. Was wollen Sie denn heute, dass Sie früher nicht wollten?
Mit 18 habe ich mich damit zufriedengegeben, mir Wissen anzueignen und Erkenntnisse zu gewinnen. Heute habe ich ein Verständnis dafür entwickelt, wieso Dinge so sind, wie sie sind. Ich kann viel durchdachter Bedingungen verändern.
Mit alldem, was Sie nun gelernt und gemacht haben, was soll noch kommen, was sind Zukunftspläne?
Ich versuche, dort zu helfen, wo ich kann. Wo das sein wird, weiß ich nicht genau. Der DFB bemüht sich gerade, eine neue Kultur in den Fußball einzuführen. VW versucht sich an einer anderen Art von Führung. Da kann ich vielleicht etwas mithelfen.
Würden Sie sagen, dass es Ihnen vor allem um das „Warum" geht, und das „Wie" ist zweitranging?
Ja, das ist eine ganz grundsätzliche Feststellung, die ich gemacht habe. Wenn man weiß, wofür man unterwegs ist, findet man auch die richtigen Instrumente und Methoden, um das zu erreichen, was man will.