Auf den großen Stromautobahnen kommt es immer wieder zum Stau: Es gibt zu wenige Hochspannungsleitungen für die vielen neuen Windräder im Norden des Landes. Allmählich entspannt sich die Situation aber, vor allem dank neuer Leitungen. Zudem kann der Strom bei starkem Wind inzwischen schneller verbraucht werden – gut für die Energiewende.
Wer mit Zug oder Auto unterwegs ist, kann die vielen Windräder in der Landschaft nicht mehr zählen: Im ganzen Land stehen inzwischen etwas über 29.000 Stück. Zusammengenommen haben sie eine Kapazität von 53 Gigawatt (GW), das ist mehr als die Hälfte der etwas über 80 GW, die in Deutschland zu Spitzenzeiten überhaupt verbraucht werden. Dass alle Windräder auf Volllast laufen, kommt natürlich quasi nie vor – aber 40 GW sind nicht selten gleichzeitig am Netz. Hinzu kommen die großen Solarparks und die über eine Million kleiner Solaranlagen, die an sonnigen Tagen bis zu 30 GW erneuerbaren Strom ins Netz schicken können.
Über das Gesamtjahr gerechnet, kamen 2018 immerhin noch 38,2 Prozent des Stromverbrauchs in Deutschland aus erneuerbaren Quellen. Davon war etwa die Hälfte Wind, den Rest teilen sich Solarenergie und Biomasse, auch die Wasserkraft steuerte ein wenig bei. Ein Erfolg, den zum Beginn der Energiewende vor 20 Jahren allenfalls die größten Optimisten erwartet hatten.
Allerdings weht der Wind nicht überall gleich. Darum sind die Windräder in Deutschland auch sehr unterschiedlich verteilt: Bei Weitem die meisten drehen sich aktuell im Norden, in Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Brandenburg. Gebraucht wird der Strom aber im Süden genauso und in Zukunft sogar noch mehr, wenn Atom- und später auch Kohlekraftwerke vom Netz gehen sollen. Der Strom muss deshalb von Norden nach Süden fließen. Das Problem dabei: Zu Zeiten von starkem Wind reichen die derzeitigen Hochspannungsleitungen dafür nicht mehr aus. Manchmal herrscht dann „Stromstau".
Damit die Leitungen nicht überlastet und zu heiß werden, müssen Kraftwerke immer wieder kurzzeitig abgeschaltet werden. Die Fachleute sprechen von der Abregelung. Die Reihenfolge dafür ist festgelegt: Kohlekraftwerke kommen grundsätzlich vor Windanlagen dran, weil Erneuerbare in Deutschlands Stromnetz Priorität haben. Allerdings müssen Kohlekraftwerke nicht komplett herunterfahren, weil ihnen das wirtschaftlich nicht zumutbar wäre. Ohnehin verursacht es Kosten, die am Ende der Stromverbraucher zahlt. Weht zu heftiger Wind, müssen auch Windräder mal vom Netz gehen – eine Schattenseite der erneuerbaren Energien mit ihren hohen Schwankungen. Schließlich wird dann umweltfreundliche Energie quasi weggeworfen. Muss das sein?
Der in Berlin beheimatete Netzbetreiber 50Hertz, dem die Hochspannungsleitungen in Berlin, Hamburg und den östlichen Bundesländern gehören, ist Vorreiter beim grünen Strom. Der Anteil der Erneuerbaren am Stromverbrauch im 50Hertz-Netzgebiet lag zuletzt bei 56,5 Prozent, deutlich mehr als im Bundesschnitt. Auch beim Thema Abregeln hat 50Hertz deutliche Fortschritte vorzuweisen: 2018 lagen die Kosten dafür nur noch bei 105 Millionen Euro, weniger als ein Drittel von dem, was drei Jahre vorher dafür anfiel. Gleichzeitig gab es weniger Netzstörungen als im deutschen Schnitt. Mehr Windstrom als andere, trotzdem stabilere Versorgung, bislang jedenfalls.
Möglich wird das unter anderem durch eine komplizierte Regelungstechnik, die teilweise in Millisekunden Erzeuger und Verbraucher zu- oder abschaltet. „Wegen der schwankenden Windkraft müssen wir manchmal in kurzer Zeit Erzeugung von etwa einem GW zu- oder abschalten", sagt Kerstin Rippel, Kommunikationschefin des Unternehmens. Das entspricht immerhin einem großen konventionellen Kraftwerk. Dass der Stromstau im Nordosten Deutschlands abgenommen hat, lag vor allem am Bau der großen Südwest-Kuppelleitung in Thüringen im Jahr 2017. Diese erlaubt nun den Abtransport großer Strommengen nach Süden. „Der Bau von neuen und die Verstärkung bestehender Übertragungsleitungen ist für die Stabilität des Stromnetzes absolut zentral", so Rippel. Und es geht weiter: Allein 50Hertz plant über 1.500 km weitere Hochspannungsleitungen bis 2030, um die künftig erwarteten Windstrommengen abtransportieren zu können. Zumeist handelt es sich hierbei aber um die Verstärkung bestehender Leitungen.
Allerdings dauert der Bau neuer Hochspannungsleitungen wegen der Planungsverfahren bis zu zehn Jahre. Zusätzlich gibt es Streit zwischen den Bundesländern über die Trassenführung.
„Zu viel gibt es eigentlich nicht"
Kein Wunder, dass die Suche nach Alternativen zu den großen umstrittenen Übertragungsleitungen läuft. „Wind oder Solarkraftwerke abzuschalten, ist doch völlig verkehrt", sagt Björn Spiegel von der Erneuerbaren-Unternehmensgruppe ARGE Netz aus Husum. „Es gibt viele gute Möglichkeiten, den Strom zu nutzen, statt ihn einfach wegzuwerfen: Der Schlüsselbegriff dazu ist Power-to-X", meint er. Bei Power-to-X handelt es sich um einen Sammelbegriff für die Umwandlung von Strom in speicherbare Energie, etwa heißes Wasser oder grüne Gase wie Methan oder Wasserstoff. „Wir müssen vor allem auch den Verkehr und den Wärmesektor dafür öffnen. Hier gibt es potenziell einen riesigen Bedarf nach klimaneutral erzeugtem Strom und Gasen." Die Devise müsse lauten: „Flexibilisieren und nutzen statt abschalten."
Derzeit laufen dazu viele Versuche, die im Rahmen einer Experimentierphase erlaubt und von der Bundesregierung in Schaufensterprojekten gefördert werden. So beteiligen sich große Stromverbraucher wie Kühlhäuser an einem Verbraucherpool und schalten für kurze Zeit mehr Verbraucher an – gegen Geld. Andere Versuche gehen in Richtung Wasserstoffproduktion zu den Zeiten, wenn zu viel Wind weht. „Zu viel gibt es eigentlich nicht", sagt Björn Spiegel. „Man muss nur immer sehen, wie man den Strom sinnvoll nutzen kann." Der Energieversorger Vattenfall etwa hat in Berlin elektrische Heißwassererzeuger (Power-to-Heat-Anlagen) angeschlossen, um bei Wind das Wasser seines Fernwärmenetzes zu erhitzen. Ein ähnliches Projekt hat ARGE Netz mit seinen Partnern aus dem regionalen Bereich umgesetzt: Ein großer Pool an Hausbesitzern hat ergänzende elektrische Power-to-Heat-Anlagen für ihre Ölheizungen bekommen, die anspringen, wenn viel Wind weht.
Ob der Fortschritt bei der Stromwende sich so fortsetzen kann wie bisher, ist die große Frage. Die Bundesregierung hat das Ziel ausgegeben, dass bis 2030 mindestens 65 Prozent des Stroms erneuerbar erzeugt sein soll. Das scheint anspruchsvoll, aber bislang hat es ja geklappt, und bei 50Hertz kommt man dem Ziel tatsächlich schon heute recht nahe. Was auffällt: Heute gibt es viel mehr technische Lösungen für zu viel Strom, den man irgendwie nutzen kann, als für zu wenig Strom. Wenn es dunkel ist und kein Wind weht, ist aber Ersatz gefragt. Wie stellt man den denn erneuerbar bereit? Dazu kommen vor allem Biogasanlagen und teilweise Wasserkraft in Frage. Ob das reicht, ist aber umstritten. Auf absehbare Zeit werden wohl konventionelle Gaskraftwerke für den Ersatz-Bedarf unverzichtbar sein.
Befürworter erneuerbarer Energie drängen darauf, den Ausbau der Windkraft und anderer grüner Anlagen noch zu beschleunigen. Die Realität sieht jedoch derzeit anders aus. Der Zubau hat zuletzt abgenommen. Vergangenes Jahr kamen nur 743 Windturbinen hinzu, halb so viel wie im Jahr zuvor. Im laufenden Jahr dürften es sogar noch weniger werden.
Der Widerstand von Anwohnern steigt. In Bundesländern wie Schleswig-Holstein und Brandenburg werden Planungsgesetze geändert, um „Wildwuchs" zu verhindern, es gibt neue Mindestabstandregelungen zu Wohngebieten, was den Bau neuer Anlagen erschwert und Projektierer verärgert. Schon ist die Rede von „Verspargelung" und „Horizontverschmutzung", was bei den Vertretern der Windindustrie wiederum für Empörung sorgt. Was wiegt stärker? Landschaftsschutz oder klimafreundlicher Strom? In jedem Fall wird die völlige Umstellung auf grünen Strom viel mehr Flexibilität erfordern als bislang. Die Stromverbraucher werden dabei ebenso gefragt sein,wie die Erzeuger.