Noch nie war die Zahl der Bundestagsabgeordneten so hoch – 709 bevölkern das Parlament. Ohne Reform können es leicht 800 werden. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble will dies auf alle Fälle verhindern.
Ratlos steht der Planungschef im Rund des Plenarsaales im Bundestag. Vor vier Jahren hatte er hier noch mit Ach und Krach 709 Stühle für die gewählten Parlamentarier einbauen lassen.
Schon damals, im Herbst 2017, war damit die Sichtachse im Plenarsaal völlig ruiniert. Jetzt müssen noch weitere 100 untergebracht werden.
Der Plenarsaal platzt aus allen Nähten. So könnte es an einem Montag im September 2021 nach der Wahl gut 25 Meter unter der Reichstagskuppel zugehen.
Laut Wahlgesetz sind 598 Bundestagsabgeordnete aus bundesweit 299 Wahlkreisen der Normalfall. Jeder Wahlkreis entsendet einen Abgeordneten über den Listenplatz und einen weiteren über das Direktmandat. Bei der letzten Bundestagswahl sind aber aus den regulären 598 nun 709 Abgeordnete geworden. Schuld daran ist das überarbeitete Wahlgesetz von 2013.
Schuld ist das neue Wahlgesetz
Doch genau das hatten die Verfassungsrichter nicht im Sinn, als sie 2012 die Neuberechnung der Überhangmandate forderten. Diese sind der Stein des Anstoßes gewesen, mit erheblichen Folgen. Die Überhangmandate entstehen immer dann bei einer Bundestagswahl, wenn eine Partei mit der Erststimme mehr Direktmandate in einem Bundesland holt, als ihr eigentlich nach dem Zweitstimmenergebnis (Parteistimme) zustehen würden.
Besonders deutlich trat dieses Stimmenungleichgewicht vor zehn Jahren bei der Bundestagswahl in Baden-Württemberg zutage. Die CDU holte in dem Bundesland 34,4 Prozent der Stimmen und hätte damit einen Anspruch auf lediglich 27 Bundestagsmandate gehabt. Doch die CDU im Ländle gewann 37 der 38 Wahlkreise per Direktmandat. Damit konnte die CDU in Baden-Württemberg zehn Abgeordnete mehr entsenden, als es das prozentuale Wahlergebnis überhaupt hergab.
Bei der Bundestagswahl 2009 konnte die CDU bundesweit dann insgesamt 24 Abgeordnete mehr in den Bundestag entsenden, als ihr nach dem Gesamtergebnis zugestanden hätten. Was natürlich umgehend das Bundesverfassungsgericht auf den Plan rief, das 2012 dann auch das Wahlgesetz für verfassungswidrig erklärte.
Die Richter entschieden damals, dass künftig nur noch maximal 15 Überhangmandate ohne einen Ausgleich zugunsten anderer Fraktionen zulässig sind. Jedes darüber muss zukünftig durch ein Ausgleichsmandat abgegolten werden. Die höchsten Richter definierten zwar das Ziel, gaben den Politikern im Bundestag aber keine Anleitung, wie diese Aufgabe nun sinnvoll gelöst werden könnte.
Das Ziel ist klar. Unterm Strich müssen „die Sitze im Parlament auch tatsächlich die gewählten Mehrheiten abbilden". Von einem zusätzlichen Ziel, dass nämlich der Bundestag nicht gleichzeitig über Gebühr aufgebläht werden soll, war keine ausdrückliche Rede.
Und da dies nicht im Urteil stand, einigten sich die Parteien zügig darauf, einfach mal alle Überhangmandate auszugleichen. Eine prima Lösung, konnte doch so fast jede Fraktion mehr Leute im Parlament unterbringen, als ihr eigentlich laut Wahlergebnis zustanden. Doch je mehr Parteien im Parlament vertreten sind, desto mehr Ausgleichmandate gibt es. In dieser 19. Legislatur sind es sieben Parteien, daher erklären sich die 709 Abgeordnete.
Bereits in seiner Eröffnungsrede hatte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble eine Wahlrechtsreform angekündigt, um das ausufernde Parlament wieder in den Griff zu bekommen. Es ist seine wohl letzte große staatspolitische Aufgabe, die Schäuble damit in Angriff nimmt. Der Bundestag habe „einen neuen Präsidenten, der ein Scheitern nicht zulassen will", gab sich damals der Architekt der deutschen Einheit kämpferisch.
Einerseits ist eine Wahlrechtsreform eine knifflige Frage für Mathematiker, schließlich muss die Verteilung der Mandate höchsten Ansprüchen genügen. Und die Methode, wie aus abgegebenen Stimmen die Zuteilung von Mandaten errechnet wird, ist regelmäßig Anlass zu Diskussionen. Um dann eine Entscheidung zu treffen, schadet eine Menge parteipolitischen Fingerspitzengefühls nicht.
Die Fronten sind seit der letzten Sitzung der „Arbeitsgruppe Wahlrechtsreform" Mitte März eindeutig geklärt. SPD, Grüne, FDP und Linke sind sich einig: Die Anzahl der Direktmandate muss gesenkt werden. Das könnte dadurch erfolgen, aus den bisher 299 Wahlkreisen 250 zu machen, wobei es gleichzeitig aber bei 598 Abgeordneten insgesamt bleiben soll.
Knifflige Aufgabe für Mathematiker
Weniger Wahlkreise heißt weniger direkt gewählte Abgeordnete. Das würde klar zulasten von CDU/CSU gehen. Die Union hatte bei der letzten Bundestagswahl mehr als drei Viertel aller Direktmandate geholt.
Jenseits der Rechenmodelle gibt es auch die Debatte, ob nicht ein direkt errungenes Mandat höher zu bewerten ist als eines über eine Parteiliste. Bürger hätten damit ja ihrem Abgeordneten direkt das Vertrauen ausgesprochen, also unmittelbar demokratisch legitimiert.
Ansonsten warnen auch Verfassungsrechtler vor einer Verringerung der Wahlkreise. Denn damit würden diese immer größer, bereits jetzt hätten einige Wahlkreise schon gewaltige Ausmaße. Wie zum Beispiel der des haushaltspolitischen Sprechers der CDU, Eckhardt Rehberg aus Ribnitz-Damgarten. Sein Wahlkreis Mecklenburgische Seenplatte/Rostock II umfasst bereits jetzt 6.000 Quadratkilometer, das ist die doppelte Fläche des Saarlandes. Schon jetzt ist es für Rehberg schier unmöglich, in einem Jahr pro Wochenende alle Kreise zu besuchen. Seine politischen Freunde müssen zu ihm kommen, wenn sie etwas wollen.
Eine Verringerung der Wahlkreise hätte zur Folge, dass alle neu zugeschnitten werden müssten. Verwaltungsmäßig ein ungeheurer Aufwand, der obendrein zu einer unüberschaubaren Zahl von Einsprüchen führen würde, die vermutlich bis zur Bundestagswahl in gut zwei Jahren nicht abgearbeitet werden könnten.
Die Union hat dagegen eine andere Idee. Die Zahl der Bundestagsabgeordneten wird auf 630 Abgeordnete hochgesetzt. Die Überhangmandate bleiben erhalten und wären dann auch rechnerisch darin enthalten. Zukünftig würde es auch weiterhin die Überhangmandate geben, allerdings nur bis zur Kappungsgrenze von 630 Sitzen. Danach ist Schluss. Doch dieses Modell wäre für die Union klar von Vorteil. Kommt die CDU/CSU dann künftig bei einer Bundestagswahl auf 42 Prozent und holt dazu über drei Viertel der Direktmandate, wie 2017, könnte dies womöglich schon für die Kanzlermehrheit (316 Stimmen) reichen. Vor allem die kleineren Parteien können da nicht mitmachen.
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ist immer noch keinen Schritt weiter bei der Wahlrechtsreform. So wie es jetzt aussieht, wird nach einem Kompromissmodell gesucht. Im Bundesinnenministerium rechnen Experten gerade verschiedene Varianten mit mehr Abgeordneten und etwas weniger Wahlkreisen durch. So kursiert beispielsweise ein Modell mit 275 Wahlkreisen und 615 Abgeordneten, letztlich die goldene Mitte der beiden vorgeschlagenen Wahlmodelle. Allerdings ist derzeit unklar, ob die vorgesehene Kappungsgrenze bei den Ausgleichmandaten möglicherweise nicht verfassungswidrig ist.
Ziemlich sicher darf man aber davon ausgehen, dass sich jemand findet, der das in Karlsruhe überprüfen lässt.