Was nicht mehr ins Supermarkt-Sortiment passt, findet trotzdem Abnehmer: Bei den Tafeln, bei Essensrettern oder bei Einzelnen, die „containern". In vielen Bundesländern tut sich einiges gegen Lebensmittelverschwendung.
Zur Gerichtsverhandlung am 30. Januar beim Amtsgericht Fürstenfeldbruck rückten Kamerateams und Reporter an, Demonstranten hatten sich mit Transparenten vor dem Gericht versammelt. Angeklagt waren zwei junge Frauen. Die Staatsanwaltschaft München II hatte eine Verurteilung wegen besonders schweren Falls des Diebstahls beantragt. Die beiden wurden mit einer Verwarnung schuldig gesprochen. Das bedeutete jeweils acht Sozialstunden bei der Tafel und 225 Euro, die ihnen erlassen werden, wenn sie sich in den nächsten zwei Jahren nichts zuschulden kommen lassen. Dagegen wollen sie Rechtsmittel einlegen.
Wozu die ganze Aufregung? Die Studentinnen waren „containern". Containern bedeutet: Jemand nimmt weggeworfene Lebensmittel mit – aus Abfallcontainern, meist von Supermärkten, aber auch von Restaurants oder Hotels. Lebensmittel also, bei denen das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, die Druck- und Gammelstellen haben oder schlicht als Überschuss nicht mehr verkauft werden. Vieles davon ist jedoch ohne gesundheitliches Risiko noch eine Zeit lang genießbar.
18 Millionen Tonnen Nahrungsmittel gehen so jährlich allein in Deutschland verloren, stellte das Institut für nachhaltige Ernährung der Fachhochschule Münster für eine Studie des WWF zur Lebensmittelverschwendung 2018 fest. Dazu schrieben die beiden Studentinnen in ihrem Blog „Containern ist kein Verbrechen!": „In Zeiten der Klimaerwärmung und wachsender Ressourcenknappheit sind wir gezwungen, Überproduktion und Ressourcenverschwendung einzudämmen, damit wir in den nächsten Jahrzehnten noch auf diesem Planeten leben können. Zudem erleben wir die unnötige Verschwendung von Lebensmitteln als eine Unmenschlichkeit, wenn es gleichzeitig Millionen von hungernden Menschen gibt."
Das findet auch Erwin aus Berlin. Er geht deshalb ab und zu containern, „wenn das Geld knapp ist" – es wird so viel Essen weggeschmissen, da ist immer was Gutes dabei. Mal ist er allein, mal zieht er mit Gleichgesinnten in der Gruppe los. Sie holen sich dann vor allem Obst und Gemüse, aber auch abgepackte Produkte, die „abgelaufen" sind. Probleme hatte er deswegen noch nicht, im Gegenteil: „Manche Angestellten schauen weg oder geben uns Tipps, man kennt sich", sagt er augenzwinkernd. Allerdings: Über einen Zaun ist er dabei noch nie geklettert. Mit Freunden nimmt er zudem an „Foodsharing" teil, einer Plattform, die sich für den verantwortungsvollen Umgang mit und das Teilen von Lebensmitteln einsetzt.
Legal ist „containern" nicht, aber manche drücken ein Auge zu
Erwin heißt nicht wirklich so, er möchte seinen richtigen Namen nicht nennen, und das aus gutem Grund – „Containern" kann nämlich strafbar sein, als Hausfriedensbruch oder Diebstahl. Den beiden Studentinnen wurde beispielsweise vorgeworfen, Container aufgebrochen zu haben, deshalb die Strafe. Außerdem ist Abfall in Deutschland nach dem Abfallrecht bis zur Abholung das Eigentum des Wegwerfers oder Grundstückseigentümers. Anderswo sieht man das anders: In Österreich gilt Müll als herrenlose Sache, wer nichts aufbricht, bleibt unbelangt. In der Schweiz ist es ähnlich. Französische Supermärkte mit mehr als 400 Quadratmetern Verkaufsfläche müssen Lebensmittelreste sogar an wohltätige Organisationen spenden, als Tierfutter verkaufen, für Dünger oder zur Energiegewinnung zur Verfügung stellen. In Tschechien gilt ebenso die Spendenregel. In Kanada ist „Dumpster Diving" (in etwa „Mülltauchen") legal und wird auch am Tage praktiziert.
Wegen der hiesigen rigiden Praxis stehen deutsche Supermarktketten immer wieder in der Kritik. Edeka, bei dem die beiden Münchener Studentinnen aufflogen, lehne das Containern ab, solange es keine eindeutigen rechtlichen Rahmenbedingungen gäbe, hieß es auf Anfrage. Ohnehin versuche man so zu bestellen, dass möglichst wenige Produkte übrig bleiben oder verfallen. Wenn doch, würden diese an lokale Tafel-Initiativen abgegeben, aber auch an kirchliche Ausgabestellen und Suppenküchen; Tierparks, Tierheime und Gnadenhöfe erhielten das weniger essbare Obst und Gemüse.
Auch der Discounter Aldi setzt in erster Linie auf Vermeidung von Lebensmittelresten. So gibt es in den Kühltheken eine Kiste mit reduzierten Produkten kurz vor Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums, „Brot vom Vortag" geht pauschal für 50 Cent über den Tresen. Was dann noch übrig bleibt und verzehrbar ist, geht an die Tafeln und andere gemeinnützige Organisationen. 2017 ist Aldi der EU-Initiative „Refresh" beigetreten, in der 26 Partner aus zwölf europäischen Ländern und China miteinander kooperieren. „Refresh" soll zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen beitragen, denen zufolge bis 2030 die weltweite Nahrungsmittelverschwendung pro Kopf halbiert und das Abfallaufkommen verringert werden soll.
In vielen Real-Märkten können sich Nutzer der App „Too good to go" für kleines Geld vorgepackte Tüten mit frischen Produkten wie Obst, Gemüse und Backwaren abholen, teils werden überschüssige Waren in Gastronomiestationen weiterverarbeitet. Tafel-Spenden haben sich auch hier in so gut wie allen der bundesweit 279 Märkte durchgesetzt. Was wirklich weggeworfen werden muss, werde in eingezäunten und abgeschlossenen Behältern gelagert – Containern sei also bei ihnen nicht möglich, so das Unternehmen.
Und was geschieht auf Länderebene? Eine WWF-Studie zur Lebensmittelverschwendung nennt als Pioniere zum Thema Nordrhein-Westfalen und Bayern: In NRW gründete sich 2010 der erste Runde Tisch „Neue Wertschätzung für Lebensmittel", Bayern erfasst seit 2012 „Lebensmittelverluste". Die entstehen zum Beispiel, wenn eine Ernte als unrentabel auf dem Feld verbleibt, Lebensmittel falsch etikettiert oder in zu hoher Zahl bestellt werden oder wegen eines Sortimentswechsels genießbares Essen auf dem Müll landet. Gemeinsam mit 100 Städten auf der ganzen Welt (darunter Frankfurt, Mailand oder Valencia) verpflichtete sich das Land Berlin 2015 zur Schaffung eines nachhaltigen und gerechten Ernährungssystems. Seit 2016 steht die Reduzierung von Lebensmittelabfällen im Koalitionsvertrag, 2018 ließ der Senat die Ernährungsstrategie „Berlin isst so" erarbeiten. Eine neue Koordinationsstelle zur Vermeidung von Lebensmittelverschwendung ist geplant, die auch Beratung und Informationen anbietet. Zentralen in allen Bezirken sollen „LebensMittelPunkte" werden – zwei davon, in Lichtenberg und auf dem Tempelhofer Feld, gibt es bereits. Dort finden Privatleute und Kleinstunternehmen Platz, auch geringe Lebensmittelmengen zu lagern, zu verarbeiten oder auch zu handeln. Und natürlich geht es auch um Informationen, ums Lernen und darum sich auszutauschen. Das hochgesteckte Ziel: Berlin soll die „Hauptstadt der Lebensmittelrettung" werden.