Die Kontroverse um die Frage, ob Intelligenz angeboren ist oder erst durch Lernen erworben werden kann, spaltet schon seit Jahrzehnten die Wissenschaftswelt. Ein Regensburger Psychologie-Professor hat die Diskussion jüngst wieder angeheizt.
Es ist in den Disziplinen Psychologie und Humangenetik seit jeher ein hochkontroverses Thema. Es wird um die grundlegende Frage gerungen, ob Intelligenz größtenteils genetisch bedingt ist oder vornehmlich durch bestimmte Lernerfahrungen und Umwelteinflüsse entsteht. Vor einigen Jahren wurde das Thema im Zuge von Thilo Sarrazins Bestseller „Deutschland schafft sich ab" in der Öffentlichkeit heiß diskutiert. Im Buch behauptet der ehemalige Berliner Finanzsenator, dass sich Intelligenzunterschiede zwischen Menschen zu 50 bis 80 Prozent durch genetische Faktoren erklären lassen.
Der Proteststurm auch aus den Reihen der SPD war erheblich. Die damalige Generalsekretärin und heutige Vorsitzende Andrea Nahles sprang verbal für ihre Partei in die Bresche: „Die Entwicklung oder Charaktereigenschaften eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen sind nicht durch ein bestimmtes Erbgut vorgezeichnet." Vielleicht hätte sich Frau Nahles damals genauer über den wissenschaftlichen Forschungsstand zum Thema Erblichkeit der kognitiven Grundfähigkeiten informieren sollen. Denn gemeinhin wird seit Jahren von anerkannten Forschern sehr wohl mehrheitlich die Meinung vertreten, dass Intelligenz durchaus hochgradig vererbbar sei. Ein neues Kapitel im ewigen Wissenschaftsstreit hat im Dezember vergangenen Jahres Christof Kuhbandner, Professor der Psychologie und Inhaber des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie an der Universität Regensburg, aufgeschlagen. Ein Beitrag für die „Süddeutsche Zeitung" trug die Headline „Intelligenz ist nicht angeboren".
Ziemlich verwunderlich, dass ihm seitdem noch niemand widersprochen hat. Dabei ging er mit seinen Kollegen ziemlich hart ins Gericht und kritisierte die aus seiner Sicht fatale Wirkung der Intelligenzvererbungs-These auf Schüler, Eltern und Lehrkräfte: „Demnach wären schlechte Leistungen naturgegeben und müssten hingenommen werden. Anstatt zu versuchen, etwas zu lernen, sollten die betroffenen Kinder dann besser lernen, mit ihrer Dummheit zu leben." Kuhbandner stellt folgende These auf: „Die Gene haben kaum einen Effekt ‒ es kommt auf die Förderung an." Intelligenz sei nichts Angeborenes, sondern bilde sich erst durch bestimmte Lernerfahrungen mittels gezielter Lernstrategien, persönlicher Anstrengungen und gutem Unterricht heraus.
Zwillingsstudien „sind logischer Fehlschluss"
Damit widersprach Kuhbandner deutlich beispielsweise der Ansicht des renommierten US-amerikanischen Psychologen und Verhaltensgenetikers Robert Plomin, der im Oktober vergangenen Jahres in einem Gastbeitrag für die „Zeit" den maßgeblichen Einfluss der Gene für den Bildungserfolg herausgestrichen hatte: „Das Verständnis, dass die DNA den wichtigsten Einfluss auf den Bildungserfolg hat, kann Eltern helfen, die Schwierigkeiten ihres Kindes zu akzeptieren." Die Psychologin Elsbeth Stern, Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung sowie Leiterin des Instituts für Verhaltensforschung am Departement für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften an der ETH Zürich, sprach im Juli 2018 im Magazin „Forschung und Lehre" über die vermeintlich angeborene Intelligenz. Sie betonte: „Ich halte sehr viele Vorträge vor Lehrern und Lehrerinnen, und die akzeptieren inzwischen, dass angeborene Intelligenzunterschiede existieren."
Kuhbandner macht seinen Kollegen den Vorwurf, unzulässige und keinesfalls logische Schlussfolgerungen aus den immer wieder zugunsten der Intelligenzvererbungs-These gebetsmühlenartig zitierten diversen Zwillingsstudien gezogen zu haben. Die erste dieser Verwandtschaftsstudien stammt schon aus dem Jahr 1924, seitdem folgten weitere. Bis Mitte der 70er-Jahre wurde aus den Zwillingsstudien abgeleitet, dass die Intelligenz bis zu 75 Prozent vererbbar sei, danach einigte man sich auf eine Prozentzahl zwischen 50 und 60 Prozent. Bei den Studien wurde der IQ von eineiigen Zwillingen, bei denen die Gene zu 100 Prozent übereinstimmen, mit zweieiigen Zwillingen, bei denen die Gene zu durchschnittlich 50 Prozent identisch sind, verglichen.
Den dahinter stehenden Denkansatz formulierte der Autor Dieter E. Zimmer, der vor einigen Jahren auch ein Sachbuch mit dem Titel „Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung" veröffentlicht hatte, folgendermaßen in einem „Tagesspiegel"-Beitrag: „Wäre die Übereinstimmung im IQ bei beiden Gruppen gleich hoch, so hätten offenbar die Gene nichts zu ihrer Ähnlichkeit beigetragen, und die Erblichkeit wäre null. Wenn die eineiigen dagegen genau doppelt so hoch übereinstimmten, wäre die Erblichkeit 100 Prozent. Man berechnet also, wie stark die Ähnlichkeit der eineiigen die der zweieiigen übertrifft." Eine ähnliche Erklärung des Prozederes der Zwillingsstudien hatte Elsbeth Stern auch in der „Zeit" geliefert: „Hätten Gene keinerlei Einfluss auf das Zustandekommen von Intelligenzunterschieden, sollten sich zweieiige Zwillingspaare genauso stark ähneln wie eineiige. Das ist aber ganz eindeutig nicht der Fall, wie alle Studien zeigen ... In entwickelten Ländern mit allgemeiner Schulpflicht sind mindestens 50 Prozent der Intelligenzunterschiede auf Variationen in den Genen zurückzuführen."
Welche Chromosomen sind zuständig?
Christof Kuhbandner hat in seinem Beitrag für die „Süddeutsche Zeitung" einen genaueren Blick hinter die Kulissen dieser populationsgenetischen Studien geworfen und ist dabei zu folgendem verblüffenden Ergebnis gekommen: „Die Studien untersuchen gar nicht, ob bestimmte Gene die Intelligenz verringern oder erhöhen. Stattdessen ermitteln die Studien, wie stark in einer Gruppe die IQ-Werte von Individuen um den Mittelwert der Gruppe streuen ‒ egal, wo dieser Mittelwert liegt. Die Annahme ist, dass die Streuung durch genetische Unterschiede und unterschiedliche Umwelteinflüsse erzeugt wird. Durch den Vergleich bestimmter Personengruppen versucht man dann, darauf zu schließen, welchen Anteil die Gene an der Streuung haben. Worauf also fußt eine solche angebliche ‚Erblichkeit‘ von 50 Prozent? Sie stützt sich auf nichts weiter als auf die Streuung von Intelligenzwerten in zwei Gruppen. Schlussfolgerungen über den Einfluss von Genen auf die Intelligenz von Individuen, beispielsweise von Schülern, oder auf die durchschnittliche Intelligenz einer Gruppe lassen sich daraus grundsätzlich nicht ziehen. Sie ist ein klassischer logischer Fehlschluss."
Gegen die genetisch bedingte Erblichkeit von Intelligenz spricht Kuhbandner zufolge auch der sogenannte Flynn-Effekt. Der beschreibt das Phänomen, dass Menschen immer intelligenter werden, was sich am Anstieg des durchschnittlichen IQ zwischen 1909 und 2013 um stolze 29 Punkte ablesen lasse. Solch substanzielle Veränderungen im menschlichen Genpool seien in einer solch vergleichbar kurzen Zeit nicht möglich. „Der wundersame Anstieg des Denkvermögens beruht fast ganz auf Umwelteffekten wie bessere Bildung oder Ernährung", sagt Kuhbandner. Ähnlich wie bei einem Computer sei eine noch so gute Hardware an biologischen Fähigkeiten des Gehirns nicht viel wert, wenn die für das Denken und Problemlösen nötige Software in Gestalt der im Laufe des Lebens erworbenen Wissensinhalte nicht erstklassige Qualität besitze. Kuhbandners Meinung zufolge können Gene die Intelligenzentwicklung nur bedingt beeinflussen. Zumal wissenschaftlich noch gar nicht geklärt werden konnte, welche Chromosomen für Intelligenz zuständig sind. Auch wenn 2017 eine Forschergruppe um Suzanne Sniekers vom Center for Neurogenomics and Cognitive Research in Amsterdam 40 neue, mit Intelligenz assoziierte Erbanlagen entdecken konnte: Kuhbandner hält den Effekt der einzelnen Gene für die Intelligenz ohnehin für verschwindend gering. „Selbst wenn man alle Geneffekte kombiniert, kann die aktuelle Forschung Unterschiede in der Intelligenz nur zu vier Prozent erklären." Erst durch Lernen kann Kuhbandner zufolge jedes Kind potenziell eine hohe Intelligenz entwickeln. Kuhbandner: „Die Intelligenz ist eine grundlegende mentale Ressource. Bei der Expertise stellt sich die Frage, wo man schwerpunktmäßig in diese Ressource investiert."