Ein Vater reist mit seinem autistischen Sohn von Stadion zu Stadion, um dessen liebsten Fußballverein zu finden. Jason (12) und Mirco von Juterczenka (40) bloggen, podcasten und werden ausgezeichnet. Ein Interview über Fantum, Entwicklungsstörungen und eine besondere Beziehung.
Jason, wie kam es dazu, dass Ihr die unterschiedlichen Fußballstadien bereist habt?
Jason: Papsi hat meinem Opa zum Geburtstag ein Fußballspiel geschenkt, und ich habe durchgesetzt, dass ich dorthin mitkomme. Mich hat dann alles interessiert außer dem Spiel. Ich habe dort beschlossen, dass ich auch Fan sein will, und dazu brauche ich natürlich eine Entscheidungsgrundlage und muss unterschiedliche Vereine sehen.
Welche Kriterien muss ein Verein erfüllen, um Dein Lieblingsverein zu werden?
Jason: Ich habe sehr viele Kriterien, und es werden immer mehr. Die Mannschaft darf zum Beispiel keinen Spielerkreis machen, darf kein Maskottchen haben, und das Stadion sollte ein außergewöhnliches Detail haben wie eine Anzeigetafel aus Holz.
Mirco, Sie sind Fan von Fortuna Düsseldorf. Wie ist Ihr Fantum entstanden?
Mirco: Fan ist mittlerweile etwas übertrieben, eher Sympathisant. Bei mir kommt das daher, dass ich in der Nähe von Düsseldorf geboren bin, mein Opa Fortuna-Düsseldorf-Fan war und meine Familie regelmäßig die Spiele schaut.
Fortuna Düsseldorf ist aber raus, Jason, oder?
Jason: Ja, die machen einen Spielerkreis.
Wenn Ihr ein Spiel besucht, sind Dir Regeln und feste Abläufe ganz wichtig. Worauf legst Du Wert?
Jason: Oberste Regel ist, dass wir mit dem Zug anreisen und uns auch in der Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewegen. Wir nehmen von jedem Spiel etwas für unsere Erinnerungswand mit, wie Schals, Wimpel oder Anstecker. Meistens wechseln wir auch in der Halbzeit die Plätze und schauen uns das Stadion an.
Was Du auch nicht magst, sind Berührungen. Im Fußballstadion, gerade in Fankurven zum Beispiel, ist das schwierig. Weicht die Regel dann auf?
Jason: In Fankurven ist das insofern kein Problem, als dass ich den Leuten dann mit voller Wucht gegen das Schienbein trete. Dann kommt ein Ordner und schnauzt Papsi an. Der erklärt das dann, und wir dürfen uns woanders hinstellen.
Hast Du denn das Gefühl, dass sich durch das Besuchen der Fußballspiele manche Deiner Regeln verändern, vielleicht weniger starr sind? Oder bleiben die bestehen?
Jason: Bei Regeln ist es so: Ab und zu verschwinden welche oder werden milder. Allerdings kommen genauso neue Regeln hinzu oder verschärfen sich. Früher durften sich die Essensbestandteile nicht berühren, das ist heute kein Problem mehr. Dafür bin ich Vegetarier geworden und benutze keine Plastikflaschen oder Plastikgeschirr mehr.
Mirco, wie ist das aus Ihrer Perspektive? Nehmen Sie Veränderungen wahr?
Mirco: Das Thema Ernährung war bei Jason immer schon schwierig, aber er hat auch gemerkt, dass es bei „Geben Sie mir bitte meine Stadionwurst mit Brötchen und Senf, aber in getrennten Bestandteilen" schwierig wird. Da hat sich das ein oder andere geändert. Genauso wie ich die Berührung etwa beim Abtasten am Eingang nicht verhindern kann. Auf die besteht er sogar mittlerweile.
Mit Eurem Blog habt Ihr viel Aufmerksamkeit bekommen. Ihr wurdet von Vereinen eingeladen, hattet zum Teil gesonderte Stadionführungen. Wie ist das für Dich Jason, dass Du jetzt so rumkommst?
Jason: Eigentlich sollte das selbstverständlich sein.
Meinst Du, dass alle Kinder eingeladen werden sollten?
Jason: Ich bin ja kein Kind.
Wie empfindest Du Dich?
Jason: Ich bin auf keinen Fall ein Kind. Teenager ist ab „Thirteen" nicht vermeidbar, aber ich bin kein Jugendlicher. Wenn man nach dem Ausschlussprinzip geht, bleibt nur noch Erwachsener übrig.
Warum?
Jason: Es gibt keine Gemeinsamkeiten mit Kindern und Jugendlichen. Die einzigen sozialen Kontakte, die ich in der Schule habe, sind die mit Lehrern. Mit denen kann man sich besser unterhalten. Die in meiner Klasse reden nur über Langweiliges.
Okay. Aber selbst Erwachsene werden ja nun nicht haufenweise zu privaten Stadionführungen geladen. Wie war das für Dich?
Jason: Natürlich wird nicht jeder eingeladen. Aber wir haben dieses Projekt, und ich finde es schon gerecht, dass wir so oft eingeladen werden. Ich wünsche mir manchmal selbst, ich könnte mir bei meinen eigenen Lesungen zuhören.
Der Blog wurde 2017 auch mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet, Ihr seid Gast im Fernsehen, seid auf Lesereise. Mirco, wie geht es Ihnen mit der vielen Aufmerksamkeit?
Mirco: Also mir geht’s anders als Jason. Das erste Mal gruselig ungewöhnlich fand ich die Nominierung für den Grimme Online Award. Als ich Jason davon erzählt hab, hat er bloß gefragt, wer die Dankesrede hält. Ich hab‘ ihm erklärt, dass verschiedene Menschen nominiert sind, unter anderem für ein millionenschweres 3D-Projekt über den Kölner Dom, und er sich keine Gedanken um eine Rede machen braucht, weil wir sicher nicht gewinnen werden. Mir hat das leidgetan, dass er darauf nicht stolz sein und sich freuen kann, sondern mit dem Druck reingeht, gewinnen zu müssen und hinterher womöglich enttäuscht ist. Als wir dann gewonnen haben, hat er gesagt: „Siehst du und jetzt haben wir keine Rede." Wir sind keine Aufmerksamkeitsprofis, würde ich sagen. Jason schon, sagt er.
Nachdem so viel über Euch berichtet wurde, haben Sie auch defizitorientierte Berichterstattung über Autismus kritisiert.
Mirco: Ja, bei Koalitionsverhandlungen heißt es, das sei das „Ringen der Autisten". Straftaten wie etwa der Amoklauf am Olympiazentrum werden mit Autismus in Verbindung gebracht. Grundsätzlich ist das negativ konnotiert. Wenn es positiv ist, redet man über die sogenannten Savants. Das sind circa 0,000001 Prozent der Autisten. Das sieht man etwa im „Rain Man"-Film: Jemandem werden 876 Streichhölzer vor die Füße geworfen, und er weiß sofort die genaue Anzahl. Das setzt viele Autisten unter Druck, weil von ihnen erwartet wird, dass sie ein besonderes Kunststück können. Was Jason natürlich auch kann, soll ich sagen. (lacht)
Ich dachte es mir fast. (lacht)
Mirko: Gleichzeitig ist Autismus nicht sichtbar. Man würde nie zu einem Blinden sagen: „Streng dich mal an, richtig zu sehen." Aber wenn ein Autist sagt: „Ich kann diese Klöße nicht zusammen mit der Soße essen", erwartet man von ihm, sich nicht so anzustellen, oder von mir als Vater, dass ich durchgreifen muss.
Umgekehrt: Was würden Sie sagen, haben Sie von Jason gelernt?
Mirco: Konsequenz. Ich kenne niemanden, der konsequenter ist als er. Wenn er sich ökologisch engagiert, schaut er zuerst, was er selbst in seinem Umfeld tun muss. Heute waren wir spät dran. Es war richtig kalt, ich wollte ein Taxi nehmen, und Jason meinte, „nein, wir laufen zu Fuß." Er läuft nicht gerne zu Fuß, aber er hält es für richtig.
Jason, was kannst Du besonders gut, würdest Du selbst sagen?
Jason: Eigentlich müsste man die Frage anders stellen: Was kann ich nicht besonders gut?
Und was wäre das?
Jason: Selbst Sport machen. In der Schule haben wir dieses Jahr Hockey gespielt, motorisch bin ich nicht besonders begabt. Danach sollten wir in der Gruppe tanzen, und ich fasse ja niemanden an.
Wie reagieren Deine Mitschüler darauf?
Jason: Ich habe in der fünften Klasse einen Vortrag gehalten und ihnen das erklärt. Ich habe gesagt: „Ladet mich bloß nicht zu Geburtstagen ein, ich lade euch auch nicht zu meinem ein." Mit meinen Mitschülern habe ich nicht so viel zu tun, das ist kein Problem.
Ich habe gelesen, Du forschst am Wissenschaftszentrum in Kassel zur Chaostheorie? Wie kam es denn dazu?
Jason: Ich war damals in der fünften Klasse, dafür gibt es einen Kids Club, in dem noch nicht frei geforscht wird. Ich habe dann eigene Themen genannt, die mich interessieren wie Quantenmechanik und Chaostheorie. Der Leiter des Zentrums hat sich daraufhin mit mir unterhalten, und eine halbe Stunde später hatte ich ein eigenes Forschungsprojekt, an dem ich jetzt seit drei Jahren arbeite.
Du sagst auch, selbst wenn es ein Medikament gäbe, mit dem man das Asperger-Syndrom heilen kann, würdest du es nicht nehmen wollen. Warum?
Jason: Das Asperger-Syndrom beinhaltet etwas mehr Behilflichkeiten als Behinderungen. Ich habe beispielsweise bei Dingen, die mich interessieren, ein sehr gutes Gedächtnis.
Vielleicht mögt Ihr beide noch mal erzählen, wie es bei Euch weitergeht?
Jason: Die Lesereise geht bis August, und für den Fall, dass wir unser Spendenziel von 25.000 Euro bis dahin nicht erreicht haben, habe ich noch ein Sachbuch geschrieben. Wir wollen damit eine Wohn- und Sanitäranlage in Äthiopien bauen und uns das auch vor Ort ansehen. Außerdem haben wir die Filmrechte an unserem Buch verkauft und wollen die Entstehung des Films begleiten.
Mirco: Ich bin tatsächlich sehr gespannt auf Jasons Buch, seine Perspektive auf die Welt, auf den Film und auf alles, was da noch kommen wird.