Selahattin Demirtas Erzählungen erinnern an Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Doch was in dem Buch „Morgengrauen" in der Tradition morgenländischer Märchen ganz harmlos daherzukommen scheint, ist keine Fiktion, sondern in der Türkei traurige Realität. Was streckenweise unfassbar klingt, erleben in dem Land am Bosporus ganz normale Menschen. Eine Frau wird Opfer staatlicher Willkür, nur weil sie zur falschen Zeit auf dem Weg zur Arbeit ist. Ein Vater sieht sich gezwungen, seine Tochter töten zu lassen, um die Ehre der Familie zu retten. Ihr Verbrechen: Sie wurde vergewaltigt.
Es sind Märchen, die uns nicht träumen lassen, sondern in den Schlaf verfolgen. Demirtas zeichnet ein düsteres Bild von seinem Land – zerrissen zwischen Tradition und Moderne. Es geht um misshandelte und ermordete Frauen, um die Rolle des Mannes, Unterschiede zwischen Arm und Reich oder um politische Willkür.
Entstanden ist das Buch nicht in einer Bibliothek oder einem Literatencafé, sondern in einer Gefängniszelle. Lesenswert werden die Geschichten trotz mancher Grausamkeiten durch den poetischen Grundton. Selahattin beobachtet auf hintergründige Weise das Verhalten der Vögel auf dem Gefängnishof. Die, die sich am dicksten aufplustern, sind natürlich „Staatsvögel". Der Autor weiß, wovon er spricht. Er ist kein Berufsliterat, sondern Oppositionspolitiker – der wichtigste Gegenspieler des türkischen Präsidenten Erdogan.
Bis Anfang 2018 war der kurdische Politiker Co-Vorsitzender der Oppositionspartei HDP, die sich für eine pluralistische Türkei einsetzt. Seit November 2016 wird Demirtas im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne festgehalten. „Morgengrauen" wurde zum Bestseller und inzwischen über 200.000 Mal in der Türkei verkauft. Das Buch erinnert daran, wozu Literatur noch in der Lage ist. Sie kann ein Spiegel der Gesellschaft und ihrer Verhältnisse sein. Und sie kann jenen als Sprachrohr dienen, die sonst keine Stimme haben.