Einer ist immer der Hauptdarsteller im „Slate": wahlweise Lukas Bachl, wenn er Zeit findet, zu seinen Gästen an den Tisch zu kommen. Sonst lässt der Küchenchef seine Gerichte sprechen, in denen immer ein Produkt im Vordergrund steht.
Wir haben’s nicht ganz leicht, zueinander zu kommen. Erst muss ich unseren Essensbeginn um eine Stunde nach hinten verschieben, dann vergisst der Lieblingsfotograf das erste Mal in drei Jahren seinen Blitz. Wir starten also etwas zeitverzögert und strapaziert um 20 Uhr im „Slate" in Mitte, dafür dann aber voll ausgestattet, mit voller Kraft und mit sechs Gängen aus dem Überraschungsmenü von Küchenchef Lukas Bachl.
Vorteil für mich: In der Wartezeit auf den nach Hause geeilten Fotografen findet Lukas Bachl Zeit für ein Gespräch. Der 32-Jährige, der vor dem „Slate" sechs Jahre bei Hendrik Otto im „Lorenz Adlon Esszimmer" sowie bei Harald Wohlfahrt in der „Schwarzwaldstube" kochte, stellt gleich klar, dass für ihn der Begriff „lecker" keinesfalls ein Unwort ist. „Ich will lecker kochen und keine Kunstwerke erschaffen", sagt Bachl.
Das ist nichts als untertrieben, denn natürlich weiß der mit klassischen Handwerksverfahren arbeitende und in der Art der französischen Schule ausgebildete Koch, was er kann und zu bieten hat. „So eine lecker in der Karkasse gebratene Taube ist schöner als eine Sous vide gegarte und dann nur kurz nachgebratene." Einst war „lecker" ein bei Peter Glückstein an diesem Ort gar nicht gern gehörtes Wort. Wo heute das „Slate" zu Hause ist, war zuvor das „Schwein" von Glückstein und David Monnie, das seinen neuen „Stall" nun wiederum in Charlottenburg hat.
Eine „zu Tode geknuddelte Taube", kündigt uns Restaurantleiter Steffen Kellner heiter an. Also eine französische Etouffée-Taube, deren Blut nach dem Tod durch Erdrosseln im Fleisch bleibt und die dadurch als besonders mild, zart und delikat gilt. Die Taubenbrust und eine geschmorte und mit einem Ragout von Ingwer, Peperoni und gepopptem Wildreis belegte Karotte gesellt sich dazu. Der Jus ist mit etwas Blut sämig abgebunden und mit Mandarine eingekocht, wie wir später vom Küchenchef erfahren. Das ist ein großer Genuss, der sich mit der leicht karamellisierten und angeschärften Karotte drei, vier-, fünfmal wiederholen lässt.
Die Gerichte haben eine ideale mittlere Größe
Die „Taube für Anfänger", wie Lukas Bachl später frotzelt, verschreckt den Fotografen mit Kopfkino und ihrer seidigen, beinah leberigen Glätte im Mund. Die Möhre dagegen entlockt dem italienischen Feinschmecker großes Entzücken: „Eine Karotte ganz nach meinem Geschmack. Und das sage ich, obwohl ich kein großer Gemüsefan bin." Beim Zweitgericht im Extratöpfchen ist er dagegen aus dem Häuschen: Keule, Herz und Leber des Vogels verstecken sich als Ragout unter einer gehaltvollen Haube von Kartoffel-Butter-Püree. Ein schlotziges, würziges Beiwerk mit hohem Wohlfühlfaktor. Der Wein darf, passend zum französischen Täubchen, von Joseph Drouhin aus der Bourgogne stammen. Der 2014er Santenay aus Pinot-Noir-Trauben zeigt mit allem, was vollmundig und dunkel ist, dass er der Taube gewachsen ist und zwar mit Beeren, Kirsche, Pflaume und einem Tick Holz aus dem Barrique.
Sommelier Tobias Gennis findet prägnante Ergänzungen zu den Gerichten, spielt meist mit den dominierenden Aromen der Gerichte. So auch beim „Ei 3.0", einem wachsweichen Eigelb, das auf Häckseln vom Eiweiß und knusprigen Kartoffeln liegt. „Gesalzen" wird mit Saiblingskaviar und grün gewürzt mit einem Kranz aus Gartenkräutern. Gennis weckt mit seiner Ankündigung unsere Neugier auf den „Mineralschiefer Riesling 2017" von Grans-Fassian aus Leiwen an der Mosel: „Die Mineralität vom Wein schiebt sich gleich wie ein Kissen unter den Gang." Die Wahl passt in mehrfacher Hinsicht – das Terroir vom Schiefer bleibt im Mund und in Erinnerung. Zudem zollt der Wein auch dem Restaurant-Namen Tribut: „Slate" ist der englische Begriff für Schiefer. Wir löffeln und gabeln uns durch das „Frühlingsgericht", wie wir den Teller spontan taufen. „Das kommt aber bald von der Karte", desillusioniert uns Steffen Kellner. Schade.
Nach unserem ziemlich grünen und frischen „Kissen" im Glas nehmen wir zum Fisch einen Totalschwenk Richtung Toskana. Ein 2016er Vernaccia di San Gimignano „Santa Margherita" bietet der leichten Schärfe und dem Biss von Chili, Korianderkresse und gepopptem Buchweizen zum mit Butterkaramell geschmorten Lachs mit eigenem Ausdruck Paroli. Avocado und etwas Passionsfrucht für diskrete Fruchtsüße lassen uns den Fisch beinah weglutschen. Ein bisschen Schärfe, das eine oder andere gepoppte Korn und immer ein ausdrücklicher Hauptdarsteller auf dem Teller charakterisieren die Handschrift von Lukas Bachl.
.Weißer Schokoschaum mit Karibikgefühl
Ach ja, ein bisschen Asien und gerne auch indische Gewürze dürfen mitspielen: Der Saibling im Ceviche-Stil grüßt mit einer Raita-Espuma überraschend harmonisch aus der Küche. Die Gerichte haben eine ideale mittlere Größe. Sie sind zweifellos mit der Finesse der „Tupfenküche" erdacht und ausgeführt, bieten aber immer die Chance auf einen dritten, vierten oder fünften Bissen zum Nachschmecken und Variieren auf Löffel und Gabel. Regulieren lässt sich die Menge indes über à-la-Carte-Gerichte oder über die Menüs, die in fünf bis acht Gängen für 69 bis 103 Euro bestellt werden können. Wer die „korrespondierenden Weine" wählt, ist für 129 bis 195 Euro pro Person gut aufgehoben. Das sollte man in Betracht ziehen. Tobias Gennis war im „Rutz", bevor er zur Eröffnung des „Slate" im Januar 2018 an die Elisabethkirche wechselte. Nicht zuletzt wollen die zwei Bars im Restaurant, die rechts und links erhalten geblieben sind, mit Können und Kennertum bespielt werden. Gemütlicher ist es im Gastraum geworden. In sich getreppte durchsichtige Holzregale gliedern den Raum: Zum Essen an den Tischen bitte rechts herum! Zum Ankommen und Eintrinken bitte erst vorne auf samtigen Sesseln und Hockern oder an der linken Bar Platz nehmen. Wo sich der Raum zuvor offen nach hinten streckte, wurden eine Wand eingezogen und ein Beinah-Separée für Gruppen geschaffen. „Man möchte zwar für sich sein, aber trotzdem schauen und ein bisschen beobachten, was die anderen machen", sagt „Slate"-Inhaber Nicolas Schmidt
Das machen wir ausgiebig, wenn wir nicht schreiben, probieren oder die Gerichte für die Fotos arrangieren. Man scheint einander durchaus zu kennen und gerne Stammgast zu sein. Im hinteren Raum tafelt eine größere Gruppe. Der Service eilt, um die Teller zeitgleich zu servieren, verbreitet aber keine Hektik. „Ruhig, aber locker" soll es zugehen, sagt Lukas Bachl. Während das vierköpfige Team in der Küche wirbelt, ist draußen Zeit für eine Erklärung oder einen Schnack mit den Gästen. Dank der Akustikdecke sitzt man selbst bei gar nicht mal so leiser Musik mittendrin, aber immer auch separat.
Wir haben Platz gelassen für einen Rest Winter und für etwas frühlingshafte Exotik. Letztere wird mir beinah monochrom elfenbeinfarben mit einem Piña-Colada-Dessert aufgetischt. Weißer Schokoladenschaum vereinigt sich mit dem Aroma exotischer Früchte, die sich in einer hellen Schokokugel verstecken. Ananas-Eis, Kokos- und Milchhaut-Chips verstärken das Gefühl von Karibik. Ich bekomme dazu einen 2011er Riesling „Wehlener Sonnenuhr Goldkapsel" Auslese vom Weingut J.J. Prüm ins Glas. Aloha! Bei fünf Grad und Nieselregen. So soll das.
Cuminpralinés runden das Menü perfekt ab
Wir durften vorkosten – die eingeschüsselte Piña Colada kommt demnächst erst auf die Karte. Der Fotograf muss dagegen noch etwas im Winter bleiben. Der ist aber nicht weniger köstlich als die helle Südsee-Insel. Im Baileys-Dessert gibt ein ebensolches Eis auf Rumtopf-Sauce den Ton an. Eine Schokoganache mit einer Haube von in Birnenessig marinierten Himbeeren und ein Bäumchen Dill drapieren sich auf einer Krokantscheibe, die als Raumteiler zwischen Eis und Sauce in der Schüssel dient. Das starke, dunkle Dessert wird von einer Rarität, einem hierzulande nicht sehr bekannten Porto Rosé de Rouge von der Quinta do Tedo, veredelt.
Da ist es nichts weniger als folgerichtig, wenn wir nach dem Verzehr eines dunklen Cuminpralinés in den regnerischen Abend hinauskugeln. Lukas Bachl, Tobias Gennis und das Team vom „Slate" haben es geschafft, unseren ruckelig gestarteten Abend so zu entschleunigen, dass wir nach zweieinhalb Stunden zwar als letzte Gäste, aber tiefenentspannt und hochzufrieden nach Hause rollen. Oder schweben.