Die Genforschung kommt vielen Krankheitsursachen auf die Schliche. Doch sie wirft auch viele ethische Fragen auf, stellt Menschen vor schicksalhafte Entscheidungen. Ein Besuch bei dem Humangenetiker und Ethiker Prof. Dr. Wolfram Henn, der Patienten ebenso berät wie Politiker.
Die nostalgische Patientenliege im Arbeitszimmer des Unigebäudes Nr. 68 erinnert an die lange Tradition. Der Gründer des Humangenetischen Instituts in Homburg, Prof. Klaus Zang, war 1972 einer der Pioniere der genetischen Beratung in Deutschland. „Im Saarland ist die Humangenetik zwar im Fachbereich Theoretische Medizin verortet, aber kümmert sich doch ganz praktisch um Patienten", sagt Prof. Dr. Wolfram Henn. Der Mediziner leitet heute die humangenetische Beratungsstelle der Universität des Saarlandes.
Worum geht es in diesen Beratungen? „Das häufigste Thema der Gespräche sind erbliche Krebserkrankungen", sagt Henn. „In Deutschland leben allein schätzungsweise 400.000 Menschen, die eine Anlage für Brust- und Eierstockkrebs tragen." Prominentes Beispiel für solche Erbanlagen ist der Fall der Schauspielerin Angelina Jolie. Nachdem sie von ihrem erblich bedingten Krebsrisiko erfahren hatte, ließ sie sich vorbeugend beide Brüste entfernen. Diese Erbanlage für Brust- und Eierstockkrebs wird HBOC genannt und betrifft Frauen wie Männer gleichermaßen. Letztere können zwar nicht selbst an Eierstockkrebs erkranken, aber die Veranlagung dafür an ihre Nachkommen weitergeben. Etwa genauso häufig ist der erbliche Darmkrebs. Das Krebsrisiko betrifft bei Frauen auch den Gebärmutterkörper. Menschen mit solch einer Anlage tragen ein 70-prozentiges Krebsrisiko.
Erblich bedingter Krebs? Ist eigentlich nicht ganz korrekt. Es handelt ich um eine Art angeborene Schutzlosigkeit gegenüber bestimmten Tumoren. Krebs ist zumeist keine erbliche, sondern eine erworbene Entartung von Zellen. Ein Tumor entsteht, wenn körpereigene Schutzmechanismen seine Entstehung nicht unterbinden können. Diese Schutzfunktion fällt meist durch äußere Einflüsse aus, zum Beispiel ungesunde Lebensweise. In manchen Fällen aber durch innere, genetische Faktoren. Dann sind bestimmte Tumorsupressorgene defekt, die als Schutzfaktor die Krebsentstehung verhindern können. Hier spielt die prädiktive Diagnostik, die voraussagende Untersuchung, eine wichtige Rolle. Den gefürchteten Krebs-Genen lässt sich in belasteten Familien mit einer ziemlich aufwendigen Blutuntersuchung auf die Schliche kommen.
In der Genetik ist es oft nur ein kurzer Weg von der Grundlagenforschung zur praktischen Anwendung. Ständig wird etwas Neues entdeckt. Henn: „Es zwingt einen zur hochintensiven Dauerfortbildung." Das Problem der Genetik: Oft klafft eine große Lücke zwischen Diagnose und Therapie. „Das macht mich manchmal ein bisschen traurig", muss der Professor gestehen. Und denkt etwas neidisch an seinen Sohn, den Chirurgen, der seine Diagnosen direkt behandeln kann.
Doch selbst wenn es eine Therapiemöglichkeit gibt, ist nicht alles in Butter. Bei bestimmten erblichen Stoffwechselerkrankungen etwa gibt es inzwischen Enzym-Ersatz-Therapien. „Diese sind wahnsinnig teuer. Aber alternativlos – die Krankenkasse muss zahlen", erklärt Wolfram Henn. So kann medizinischer Fortschritt auch zu Belastungen des Gesundheitssystems führen.
Ein großes Problem der genetischen Beratung ist der Datenschutz
Wolfram Henn berät auch Politiker im Bereich der Lebenswissenschaften. Er ist Mitglied im Deutschen Ethikrat. Ein Ehrenamt, das ihn etwa 15 bis 20 Wochenstunden kostet. „Etwa alle 14 Tage stehe ich morgens um drei auf, fliege nach Berlin, bin um Mitternacht wieder zu Hause. Mittlerweile hat er zahlreiche Stellungnahmen mitverfasst, darunter eine zur Versorgung von Menschen mit seltenen Erkrankungen. Aktuell arbeitet er an einer Stellungnahme zum viel diskutierten Eingriff in die Keimbahn. Stichwort genmanipulierte Zwillinge in China. Ein weiterer ethischer Aspekt ist der Datenschutz, der Schutz genetischer Daten. Die persönliche Gesundheitsprognose interessiert nicht nur den Patienten selbst. Was, wenn mein zukünftiger Arbeitgeber oder meine Lebensversicherung im Vorfeld von meinem erhöhten Darmkrebsrisiko erfährt? „Das Humangenetische Institut ist bewusst nicht ans Datennetz des Uniklinikums angeschlossen", erklärt Henn. Zum Datenschutz gehört auch die ärztliche Schweigepflicht. Das kann aber auch ein Problem sein. Denn diagnostizierte Risiken werden nicht immer in der Familie kommuniziert, obwohl diese ja ebenfalls betroffen sein kann. Henn: „Da kriegt einer mit 30 Darmkrebs und meint dann: Mit meinem Cousin hab ich Krach, dem sag ich nix."
Ethische Fragen stellen sich auch bei neurodegenerativen Erkrankungen wie der erblichen Demenz. „Wie geht man mit so einem Damoklesschwert um?", fragt er. „Humangenetik hat oft mehr mit Lebensplanung als mit Therapieplanung zu tun". Ein Fallbeispiel: Der Sohn einer Familie mit erblicher Gleichgewichtsstörung ist Ingenieur und will wissen, ob er lieber ins Planungsbüro oder zum Brückenbau gehen soll. Bei erblich bedingtem Krebsrisiko gilt es, weitere Risikofaktoren möglichst zu vermeiden, um die Tumorgefahr einzudämmen.
Eltern mit Kinderwunsch, die von Erbkrankheiten in der Familie wissen, berät Wolfram Henn vor einer geplanten Schwangerschaft. Hier geht es um die Risikobewertung.
Der wohl schwierigste Teil seiner Tätigkeit ist die Beratung bei Problemen in der Schwangerschaft. Die werdenden Eltern kommen in der Regel bereits mit einem Befund in der Tasche zur Beratungsstelle, etwa wenn sich Fehlbildungen oder geistige Behinderungen abzeichnen. Ein Klassiker ist das Down-Syndrom.
Doch Schwangerschaftsabbrüche aufgrund genetischer Erkrankungen sind selten. „97 Prozent der Abtreibungen betreffen gesunde Kinder. Drei Prozent der Abbrüche haben eine medizinische Indikation, und davon nur ein kleinerer Teil wegen vorgeburtlicher Gendiagnostik", sagt Henn. Das ist der Teil seiner Arbeit, den er am wenigsten liebe, so der Genetiker. Hier muss er die Frage klären: Kann ich mir vorstellen, mit einem Kind zu leben, das Einschränkungen hat? „Das sind zwar wenige, aber dafür hochkomplexe Fälle. In der Regel benötigen wir da mehrere Beratungsgespräche." Da wünscht sich zum Beispiel eine Frau ein Kind und weiß, dass ihr Bruder an erblichem Muskelschwund starb. Jetzt gilt es zu überlegen: Soll sie normal schwanger werden, die vorgeburtliche Diagnose abwarten und dann eventuell abtreiben? Oder lieber die aufwendigere Lösung, die künstliche Befruchtung mit Auswahl eines erbgesunden Embryos aus mehreren? Hier hat Henn eine klare Position: „Lieber Zeugung auf Probe als Schwangerschaft auf Probe."