Die Weltgesundheitsorganisation WHO schlägt Alarm: Zu viele Babys werden per Kaiserschnitt entbunden. Im Saarland sogar über 37 Prozent. Der Deutsche Hebammenverband sieht ebenfalls deutlichen Verbesserungsbedarf. An der Sinnhaftigkeit der Operation scheiden sich die Geister. Der Versuch einer Einordnung.
„Ehrlich gesagt hat der Noteingriff ein paar Spuren hinterlassen", gibt Hélène Maillasson zu. „Ich habe immer wieder diese Momente, wo alles wieder hochkommt, und dann kann ich nur heulen", sagt die 34-jährige Französin wenige Tage nach der Geburt. Im Dezember erblickt ihr Sohn in einer Saarbrücker Klinik das Licht der Welt – per Not-Kaiserschnitt. „Um 10.40 Uhr konnte ich auf dem Bildschirm sehen, dass seine Herztöne innerhalb von Sekunden weniger wurden, und gleich waren mehrere Ärzte um mich herum." Diese setzen Spritzen an, legen Schläuche, um das Babyherz weiter schlagen zu lassen und schieben Hélène Maillasson in den OP. Dort wird sie narkotisiert. Rund zwei Minuten später setzen sie zum Unterbauch-Querschnitt und zum Schnitt in die Gebärmutter an. Nur fünf Minuten später ist der Junge entbunden.
„Ich bin so dankbar, dass es ihm so gut geht", sagt sie heute und freut sich, dass er sofort „Top-Werte" hatte. Nachdenklich fügt sie hinzu: „In manchen anderen Ländern, in denen die Versorgung nicht so gut ist, würden wahrscheinlich weder er noch ich da sein. Insofern hatten wir sehr viel Glück." Nichtsdestotrotz war ihre letzte Erinnerung vor der Narkose der Gedanke, dass das Herz des Jungen zum Stillstand kommt und er es vielleicht nicht überlebt. „Das war schon ein bisschen traumatisierend", sagt sie.
Generell liegt die Sterblichkeitsrate von Neugeborenen beim Kaiserschnitt laut einschlägigen Fachportalen bei weit unter einem Promille. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die Prozentraten zweistellig. Das ist vor allem verbesserter Technik, dem Einsatz von Bluttransfusionen und einer keimfreieren Umgebung geschuldet. Liegt das Risiko eines Kindstodes also ungefähr im gleichen Bereich wie bei einem Langstreckenflug umzukommen, ist der prozentuale Anteil von Kaiserschnitten an sich schon beachtlich – diese beträgt im Bundesschnitt 30,5 Prozent. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hält eine Kaiserschnittrate von 10 bis 16 Prozent für vernünftig. Das Saarland belegt deutschlandweit seit vielen Jahren den ersten Platz. Laut Statistischem Bundesamt kamen dort 2017 3.401 von insgesamt 9.149 Neugeborenen durch den operativen Eingriff zur Welt – das macht stolze 37,2 Prozent.
„Die Zahl der Kaiserschnitte könnte deutlich niedriger sein", sagt Susanne Steppat, Präsidiumsmitglied des Deutschen Hebammenverbandes (DHV) und selbst Hebamme seit 1997. Die Risiken für Thrombosen, Embolien und eine Verblutung seien bei einem Kaiserschnitt höher als bei der vaginalen Geburt. Hinzu komme ein erhöhtes Risiko bei späteren Geburten.
„Es gibt zu wenig Geld für normale Geburten", findet die Hebamme
Zudem zeigten sich später weitere negative Seiten des operativen Eingriffs. So seien öfter Wundheilungsstörungen zu beobachten, und es werde weniger Oxytocin ausgeschüttet. Das Hormon sorgt unter anderem dafür, dass sich die Gebärmutter zusammenzieht, die Wehen ausgelöst werden und stimuliert die Brustdrüsen zur Abgabe von Milch. Da Oxytocin außerdem allgemein soziale Interaktionen sowie das Verhalten zwischen Geschlechtspartnern und zwischen Mutter und Kind beeinflusse, könnten hier Defizite entstehen.
Vaginal entbundene Babys haben statistisch gesehen ein gesünderes Leben vor sich. Sie sind laut einer Studie der Techniker-Krankenkasse weniger anfällig für Atemwegsinfektionen. Wer dagegen per Sectio zur Welt kam, erkrankt häufiger an Adipositas, Diabetes und Allergien. Warum, ist noch nicht hinreichend erforscht.
Generell müsse man beim Kaiserschnitt zwischen zwei Arten unterscheiden: „Zwischen dem geplanten und dem, der aus einer Gefahrensituation während der Geburt entsteht", so Susanne Steppat. Dass in letztgenanntem Fall die Operation angewendet werden müsse, stehe außer Frage. Doch an einer der Methoden, wie man Komplikationen erkennt, übt der DHV Kritik. So sei es wissenschaftlich nicht belegt, dass die Kardiotokografie (CTG) tatsächlich 1:1 den Zustand des Kindes wiedergebe. CTG-Geräte werden eingesetzt, um durch Abgleich der Herschlagfrequenz und der Wehentätigkeit der werdenden Mutter Rückschlüsse auf das Wohl des Kindes ziehen zu können.
Eine Kritik an den vielen Kaiserschnitten, auf die man immer wieder stößt, ist der Kostenfaktor. Wie die „Welt" berichtet, bekämen Kliniken für Kaiserschnitte deutlich mehr Geld von den gesetzlichen Krankenkassen. Doch gleichzeitig seien die Kosten dann auch deutlich höher, unter anderem wegen einem einsatzbereiten Anästhesisten und einem vorbereiteten OP-Saal. „Es gibt eher zu wenig Geld für normale Geburten", findet Susanne Steppat. Auch für Hebammen selbst rechne sich ein Kaiserschnitt nicht. Hebammen seien ja ohnehin angestellt, und Freiberufliche könnten für einen Kaiserschnitt im Gegensatz zur normalen Geburt weniger abrechnen.
In Deutschland gibt es eine Art Ost-West-Gefälle. Von Sachsen mit einem prozentualen Anteil an Kaiserschnitten von 24,0 Prozent bis Sachsen-Anhalt mit 30,4 Prozent liegen alle fünf Ost-Länder unter dem Bundesdurchschnitt. „Hebammen im Osten erlebe ich autarker und Ärzte nicht so forsch im Durchführen von Kaiserschnitten", erklärt Susanne Steppat. Ob es für Hebammen und Ärzte einen größeren Druck gebe, sich für einen Kaiserschnitt auszusprechen – etwa, wenn man befürchtet, das Kindeswohl sei gefährdet – kann sie nicht bestätigen. Das hänge von der jeweiligen Erfahrung ab.
Das größte Problem ist nach Meinung des Verbandes, dass es keine bundesweit einheitliche Indikationsliste für das Erkennen von Komplikationen gebe. An einer solchen Liste arbeite man derzeit unter anderem mit Gynäkologen und Narkoseärzten zusammen. Ob man im Endeffekt zu den Eltern gehöre, die einen Kaiserschnitt ablehnen oder zu denen, die sagen, dass es die Hauptsache sei, dem Kind gehe es gut – der größte Vorteil bei dem geplanten operativen Eingriff sei jedenfalls die gesparte Zeit.
Das Regionalbüro Europa der Weltgesundheitsorganisation schlug letzten Dezember Alarm gegen die europaweit steigende Zahl der Kaiserschnitte. Ärzten zufolge würden diese „epidemische Ausmaße" annehmen, so der europäische Ableger der WHO auf seiner Webseite. In Teilen Nordeuropas liege die Quote bei unter 20 Prozent, während in einigen südeuropäischen Staaten mehr als die Hälfte der Geburten per Kaiserschnitt erfolgten.
Die Herausforderung für diese Länder solle darin bestehen, die Gründe für diese hohen Raten in ihrem jeweiligen nationalen Kontext zu ermitteln und zu prüfen, wie sich der Status des Kaiserschnitts verändern lasse – von der normalen Entbindungsform zu einem Eingriff, der nur dann vorgenommen wird, wenn er medizinisch notwendig ist.