In Deutschland tobt ein Kampf um die besten Talente. Der Fachkräftemangel hat dafür gesorgt, dass es vielerorts mehr offene Stellen als Bewerber gibt. Waren es früher die Absolventen, die sich bei den Unternehmen bewerben mussten, läuft es nun zunehmend andersherum.
Die besten Partys finden bekanntlich in der Küche statt. Warum also nicht auch dort ein Bewerbungsgespräch veranstalten, um gewissermaßen die besten „Zutaten" für das eigene Unternehmen zu bekommen? Immer in der Hoffnung, dass die Bewerber bei diesem Format erst so richtig auf den Geschmack kommen.
Früher waren es die Kandidaten, die sich ins Zeug legen mussten, um eine Stelle zu bekommen – entweder beim Vorstellungsgespräch oder oft auch im Assessment-Center, das zum Teil über mehrere Tage ging. Heute buhlen die Unternehmen mit immer ausgefalleneren Formaten um qualifizierte Mitarbeiter. Die Bewerbungswelt steht quasi Kopf. „Der Arbeitsmarkt ist aktuell in vielen Branchen definitiv ein Arbeitnehmermarkt – viele Unternehmen haben einfach mehr offene Stellen als es Bewerber gibt. In bestimmten Bereichen, und ganz besonders im Digitalbereich, ist es wirklich so, dass sich die Unternehmen eher bei den Fachkräften bewerben als andersherum", sagt Katja Bauer, Partnerin bei der Berliner Personal- und Organisationsberatung i-potentials, die sich auf das Recruiting digitaler Topmanager spezialisiert hat. Nach Angaben des Branchenverbands Bitkom sind allein im IT-Sektor derzeit rund 55.000 Stellen unbesetzt. Der Arbeitnehmer ist somit zu einem knappen Gut geworden. Das hat die Spielregeln des Arbeitsmarktes grundlegend verändert.
Die klassische Stellenanzeige hat vielerorts längst ausgedient. Stattdessen gehen viele Unternehmen in ihrer Personalnot neue Wege. Das Stichwort heißt Recrutainment – die Verknüpfung von Fach- und Karrierethemen mit unterhaltsamen Elementen (Entertainment). „Durch die Teilnahme an Events mit Recrutainment-Ansatz stellen sich Unternehmen als innovative und interaktive Arbeitgeber dar, die auch in der Ansprache von Talenten neue Wege gehen. So profitieren sie von einer hohen Aufmerksamkeit ihrer Unternehmensmarke und kreieren gleichzeitig eine Plattform, um Kandidaten fachlich beurteilen und rekrutieren zu können", sagt Lutz Leichsenring, Mitgründer von young targets, einem der Pioniere im Bereich Recrutainment. Rund 40 Events organisieren die Berliner im Jahr. Manchmal sind sie selbst der Veranstalter, wobei sich interessierte Firmen quasi einkaufen können, wenn sie sich präsentieren möchten; zum Teil handelt es sich aber auch um Events im Auftrag eines einzelnen Unternehmens.
Klassische Stellenanzeigen sind out
Für die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young organisierte young targets beispielsweise eine Campus-Tour an verschiedenen deutschen Hochschulen, in dessen Rahmen die Absolventen unter anderem auch an einem Escape Game teilnehmen konnten. Weitere Veranstaltungsformate in der Vergangenheit waren eine Art Schnitzeljagd, bei der sich die Teilnehmer mittels einer App von Firma zu Firma quizzten und dabei auch gleich Informationen zu den jeweiligen Betrieben bekamen, sowie der IT-Jobshuttle, eine begleitete Tour durch mehrere Unternehmen – oder wie Lutz Leichsenring es nennt: „eine Art moderner Kaffeefahrt". Er sagt: „Insbesondere unter Vertretern der Generation Y hat diese Form des Recruitings eine sehr hohe Akzeptanz und bringt Unternehmen über soziale Medien ins Gespräch. Junge Talente können unkompliziert und niedrigschwellig Kontakte knüpfen und hinter die Kulissen von spannenden Arbeitgebern blicken."
Bereits 1997 hatte der Autor Steven Hankin in einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey & Company für die USA erstmals den Begriff „War for Talent" geprägt: Aufgrund der zunehmenden Schwierigkeit von Unternehmen, geeignetes qualifiziertes Personal zu finden, sei zwischen den Unternehmen ein regelrechter Kampf ausgebrochen. Mittlerweile hat diese Entwicklung auch Deutschland erreicht. „Im Bereich der hochqualifizierten Fachkräfte, die am besten noch Kompetenz im Digitalbereich mitbringen, nähern wir uns mittlerweile einer Situation, die man als ,War for Talent‘ bezeichnen kann", sagt Katja Bauer von i-potentials. Das betrifft insbesondere die IT-Branche und die sogenannten Mint-Berufe aus den Bereichen Mathematik, Ingenieurwesen, Naturwissenschaften, Technik. Doch auch in anderen Berufszweigen ist die Situation ähnlich. „Selbst Kfz-Mechatroniker werden teilweise schon mit Headhuntern gesucht, das wäre früher undenkbar gewesen", sagt Bauer. „Jeder Bereich, übrigens auch der öffentliche Sektor, muss sich daran gewöhnen, dass gute Mitarbeiter für eine Organisation den gleichen Stellenwert haben wie gute Kunden. In Zukunft gilt es hier besonders, eine auf das Unternehmen zugeschnittene Personalstrategie zu entwickeln."
Für den Fachkräftemangel gibt es mehrere Gründe. Einer ist der demografische Wandel: Die geburtenstarken Jahrgänge, die sogenannten Babyboomer, gehen allmählich in Rente oder sind es sogar schon. In den nachfolgenden Jahrgängen war die Geburtenrate deutlich niedriger, sodass also weniger jüngere Arbeitnehmer in den Arbeitsmarkt nachrücken. Erschwert wird die Suche nach Fachkräften zudem durch einen zunehmend globalisierten Wettbewerb: Viele Hochqualifizierte sind heutzutage flexibel und auch bereit, für einen attraktiven Job ins Ausland zu gehen – somit buhlen die Unternehmen längst nicht mehr nur mit deutschen, sondern auch mit internationalen Firmen um die besten Talente. Ein weiterer Faktor ist die zunehmende Digitalisierung quer durch alle Branchen, weshalb die Nachfrage in diesem Bereich besonders hoch ist. Katja Bauer sagt: „Speziell im Digitalbereich kommt hinzu, dass Deutschland den Trend einfach relativ lange verschlafen hat und nicht ausreichend passende Studien- und Berufsausbildungsangebote schaffen konnte. Somit gibt es augenblicklich eher wenige Menschen mit dem digitalen Know-how, das in immer mehr Unternehmen dringend gebraucht wird."
Bewerber legen Wert auf eine gute Work-Life-Balance
Für die Unternehmen bedeutet es, dass sie sich frühzeitig um Aufbau und Pflege eines aussagekräftigen Profils bemühen müssen. Denn die Absolventen wünschen sich heutzutage vor allem mehr Informationen darüber, was sie als Mitarbeiter konkret erwartet, weshalb viele Unternehmen bereits in ihren Jobgesuchen auf Weiterbildungsangebote und Entwicklungsperspektiven hinweisen. „Wenn potenzielle Bewerber wissen, woran sie bei einem Unternehmen sind, sind die Chancen deutlich höher, dass sie sich auch tatsächlich bewerben, als wenn ihnen eine Firma weitgehend unbekannt ist", erklärt Lutz Leichsenring von young targets.
All das kostet. Zwar sei das Recruiting insgesamt nicht anstrengender oder teurer als andere Bereiche, die zu einem Unternehmen dazugehören, meint Katja Bauer von i-potentials. „Aber viele deutsche Firmen haben in den vergangenen Jahren einfach vergessen, sich um ihre Personalarbeit zu kümmern – die Bewerber waren ja immer da. Daher gibt es jetzt natürlich einen gewissen Nachholbedarf." Zumal es nicht nur darum geht, neue Mitarbeiter für das Unternehmen zu gewinnen, sondern auch darum, sie anschließend bei der Stange zu halten. Die Arbeitnehmer wissen schließlich um ihren Wert, entsprechend selbstbewusst stellen sie ihre Forderungen.
Anders als früheren Generationen geht es ihnen aber weniger um Jobsicherheit oder ein besonders üppiges Gehalt. Hoch im Kurs liegen flexible Arbeitszeiten, Fortbildungsmöglichkeiten und ausreichend Raum zur Entfaltung – kurz: eine gesunde Work-Life-Balance. Viele Firmen schaffen deshalb besondere Anreize, um neue Mitarbeiter für sich zu gewinnen und längerfristig an sich zu binden. Yoga im Büro, Massagen und Sprachkurse. Gerade in Berlin würden sich viele Unternehmen mit solchen Angeboten gegenseitig hochschaukeln, sagt Katja Bauer, dabei gehe es eigentlich um etwas ganz anderes. „Für jüngere Arbeitnehmer ist das wertvollste Gut ihre Lebenszeit. Sie wollen wirksam sein, ihre Lebenszeit sinnvoll einsetzen, und auf Augenhöhe behandelt werden. Schaffen Unternehmen das, zählt das häufig mehr als noch so viele Extras", sagt sie. Dafür brauche es jedoch gute Führungskräfte. Bauer meint: „Manager, die ihre Mitarbeiter fördern und sie weiterentwickeln, sind Gold wert für ein Unternehmen. Wer also Mitarbeiter lange halten will, sollte vor allem in die Ausbildung und Förderung empathischer und kommunikationsstarker Führungskräfte investieren. Das ist zwar teurer, aber deutlich nachhaltiger als Tischkicker und Obstschalen im Büro aufzustellen."