Spielstraßen statt Parkplätze lautet das Konzept. Im badischen Freiburg entstand vor mehr als 25 Jahren das ökologische Musterviertel „Vauban". Ganz ohne Autos – und Konflikte – geht es aber auch dort nicht.
Bimm, bimm – die Straßenbahn mit der Aufschrift „Vauban" saust um die Ecke. Weil ein Fahrradfahrer noch schnell über die Gleise hechtet, betätigt der Fahrer energisch die Klingel. Um die Haltestelle herum herrscht reges Treiben. Junge Männer mit Rucksack und Kapuzenpulli, ältere Damen mit Rollator, ein knutschendes Paar vor der Bäckerei: Wer es nicht weiß, könnte Freiburg-Vauban für ein ganz normales Stadtviertel halten.
Doch das wäre weit gefehlt. „Die Vauban", wie sie in Freiburg sagen, ist ein ökologisches Vorzeigeprojekt. Jahrzehntelang diente das 34 Hektar große Areal als Militärstützpunkt der Franzosen – die Kaserne, daher „die" Vauban. Nachdem die Soldaten 1992 abgezogen waren, setzte sich für die Nachnutzung eine Idee durch, die aus damaliger Sicht revolutionär war – und in vielen Teilen immer noch ist. Auf dem Kasernengelände sollte ein Stadtteil entstehen, der komplett nachhaltig ist: kompakte, gut gedämmte Häuser; kurze Wege, viele Spielstraßen. Und: keine Autos. Tatsächlich ist es zwischen den Wohnhäusern angenehm ruhig. Im Minutentakt rollen Fahrräder über den Asphalt, viele davon mit Anhängern oder Kindersitzen. Über die Nebenstraßen rattern Kinder mit ihren Bobbycars, während 100 Meter weiter, in einem abgezäunten Areal, ein paar Hühner gackern. Verbrennungsmotoren sind nicht zu hören, allenfalls das Bimmeln der Straßenbahn.
Trotzdem: Ganz so, wie es sich ein Teil der Bürgerschaft wünschte, kam es am Ende nicht. Zwar wurde Freiburg-Vauban als „autoreduzierter" Stadtteil konzipiert. Gänzlich verboten ist der motorisierte Individualverkehr aber auch im Öko-Quartier nicht. „Das wäre rechtlich extrem kompliziert geworden", erklärt Roland Veith. Der 69-jährige Freiburger, inzwischen pensioniert, gilt als Vater der Vauban. Als Projektleiter setzte er alle Beschlüsse um, auf die sich Stadträte, Bürgerinitiativen und Architekten nach jahrelangen Diskussionen geeinigt hatten. Veith selbst wohnt nicht in Vauban. Aber auch heute noch kommt er regelmäßig dorthin, um internationale Besucher durch das Vorzeigeviertel zu führen. Zum Interview kommt er mit dem Auto.
Die bunten Häuser, der belebte Marktplatz, die vielen Kinder, die auf den Straßen spielen: Vauban ist nach wie vor ein Aushängeschild. Im Viertel selbst gilt ein Tempolimit von 30 km/h. Vor vielen Häusern gibt es absichtlich keine Parkplätze: Anwohner sollen ihr Auto – sofern sie eins besitzen – in einer der beiden „Quartiersgaragen" parken.
Beim Rundgang mit Roland Veith fällt auf, dass sich die meisten an diese Vorgaben halten. Doch es gibt Ausnahmen: In einer Nebenstraße parkt ein VW Polo direkt vor der Haustür, dahinter ein 5er-BMW mit zugefrorenen Scheiben. „Der steht nicht nur zum Ausladen hier", schlussfolgert Veith – eine Ordnungswidrigkeit in Vauban. „Am Anfang gab es wegen solcher Dinge noch häufig Streit", erinnert sich Veith. „Da sind verärgerte Nachbarn auch schon mal über Autos gelaufen."
„Mutter der autofreien Quartiere"
Vielleicht ist das der Grund, warum jenseits der Freiburger Stadtgrenzen so viele Klischees über die Vauban kursieren. Gut situierte Kampfradler sollen dort wohnen, Esoteriker, Alt-68er oder linke Steinewerfer. Und auch in Freiburg selbst lästern viele über die angeblich arroganten Öko-Spießer.
Die Realität sieht freilich etwas komplexer aus. Zwar wählten bei der vorherigen Landtagswahl tatsächlich mehr als 60 Prozent der Bewohner die Grünen –
danach folgte die Linke, während alle anderen Parteien kaum eine Rolle spielten. Doch auch in Vauban gibt es durchaus grüne Abstufungen.
Am alternativsten sehen noch die bunt bemalten Häuser und Wohnwagen der „Susi", der selbst organisierten unabhängigen Siedlungsalternative, aus. Ansonsten: bürgerliche Ruhe. Es gibt einen Supermarkt, eine Grundschule und ein „Green City Hotel", in dem Menschen mit Behinderung arbeiten. Was auf den ersten Blick vorbildlich klingt, hatte vor einigen Jahren noch zu Konflikten geführt. Damit das Hotel gebaut werden konnte, musste 2011 eine Wagenburg weichen, die auf dem Gelände stand. Am Ende brannten Barrikaden – die Polizei löste die Wagenburg auf. Ob die Räumung gerechtfertigt war, wurde auch innerhalb der Vauban-Bevölkerung leidenschaftlich diskutiert.
Beim Verkehrskonzept zeigt sich der Stadtteil ebenfalls zweigeteilt. Da wäre einerseits der Autofrei-Verein, in dem sich Gleichgesinnte zusammengeschlossen haben, die ohne eigenes Fahrzeug leben. Auf der anderen Seite kommt aber auch das Öko-Viertel nicht ganz ohne Porsche aus. Sechs Fahrzeuge dieser Marke gibt es in Vauban, wie das Statistische Jahrbuch der Stadt darlegt. Das Dokument zeigt aber auch, dass in Vauban tatsächlich weniger Menschen ein eigenes Auto besitzen als im Rest der Stadt: 202 Autos kommen dort auf 1.000 Personen – in der Gesamtstadt sind es 390.
Auf dem Marktplatz dreht Monika Kerner eine Runde mit ihrem Rad. Die 53-Jährige lebt mit einer Freundin in einer Zweier-WG. „Als ich hierhergezogen bin, hatte ich am Anfang auch noch ein Auto", gibt sie zu. „Ich brauchte es beruflich, und die Nachbarn haben das toleriert." Trotzdem habe sie immer ein schlechtes Gewissen gehabt. „Inzwischen besitze ich keins mehr und bin damit total zufrieden. In einer Großstadt ein Auto zu haben, ist doch völlig sinnfrei."
In der Tat: Der öffentliche Nahverkehr in Vauban ist extrem gut ausgebaut: Während auch im grün regierten Baden-Württemberg in vielen Dörfern nur einmal pro Stunde der Bus hält – wenn überhaupt –, haben die Anwohner des Öko-Stadtteils fast schon die Qual der Wahl: Zwei städtische Busse, eine Regionalbuslinie und eine Straßenbahn erschließen das Viertel, in dem knapp 5.600 Personen leben. Es kommen Carsharing-Fahrzeuge hinzu, die für spontane Erledigungen zur Verfügung stehen.
Auch in Freiburg ist nicht alles toll
Christian Steffan hat trotzdem ein eigenes Auto, zumindest für berufliche Zwecke. Der 64-Jährige besitzt ein Eiscafé, das er regelmäßig beliefern muss. Das Fahrzeug, beteuert er, parke er ausschließlich in der dafür vorgesehenen Garage. „Privat nutzte ich gar kein Auto. Das wäre auch Quatsch, weil ich mit der Straßenbahn in zehn Minuten in der Stadt bin." Aus diesem Grund ist Steffan auch Mitglied im Autofrei-Verein. „Ich mag die hohe Lebensqualität in Vauban. Man hört hier keinen Verkehrslärm und kann seine Kinder auf der Straße spielen lassen."
Der ökologisch orientierte Verkehrsclub Deutschland (VCD) bezeichnet die Vauban als „Mutter der autofreien Quartiere". Eine Auflistung des Verbandes zeigt, dass inzwischen auch andere Städte dem Freiburger Vorbild folgen (siehe Infobox). Als „autofrei" oder „autoreduziert" werden die Stadtteile heute aber kaum noch angepriesen. „Dieses Label ist zu sehr mit Verzicht behaftet", sagt VCD-Sprecherin Helena Köfler. Eine positive Botschaft komme weit besser an. Wie auch immer die Bezeichnung am Ende lautet: Damit ein autofreies oder -reduziertes Viertel funktioniert, braucht es eine langfristige Planung. „Es reicht nicht, irgendwo ein Carsharing-Auto hinzustellen und zu hoffen, dass es funktioniert", betont Köfler. Stadtplaner müssten von Anfang an den Dialog mit den Bürgern suchen und sicherstellen, dass ein solches Gebiet gut an den ÖPNV angebunden sei.
In Vauban scheint das gut zu funktionieren, wie ein Studienprojekt der RWTH Aachen aus dem Jahr 2014 bestätigt („Von Vauban lernen"). „Die Straßenräume in den stellplatzfreien Bereichen fungieren als Lebensraum mit einer hohen Aufenthaltsqualität", heißt es im Fazit der Studie. Dank der guten Bus- und Bahn-Anbindung verliere das Auto seinen Reiz.
Trotz der positiven Bilanz weisen die Autorinnen aber auch auf Widersprüche im Öko-Quartier hin. So bedauerten einige Anwohner, „dass nur Teilbereiche konsequent vom (ruhenden) Verkehr entlastet wurden und in anderen eher konventionelle Parkierungslösungen realisiert wurden."
Wenn man Vauban wieder verlässt, ist übrigens auch in Freiburg nicht alles grün, was glänzt. Quer durch die Stadt führt die B 31 – eine der wichtigsten Ost-West-Verbindungen in Baden-Württemberg. 2018 betrug dort der Jahresmittelwert für Stickstoffdioxid 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft – erlaubt sind maximal 40.