Ihre Hände haben heilsame Kräfte. Sie bestehen aus je 27 Knochen, 30 Muskeln und unglaublichen 17.000 Nervenenden, und sie sind meisterhafte Werkzeuge. Nur nutzen wir sie so selbstverständlich, dass wir es nicht einmal merken. Hätten Sie gedacht, dass wir durchschnittlich über 2.000 Mal am Tag unser Smartphone berühren? Das sagt eine Studie aus den USA. Die Vermutung liegt nahe, dass wir ein Stück Technik öfters anfassen als andere Menschen.
Es beginnt schon im Mutterleib. Wir sind noch nicht geboren, da können wir schon am Daumen lutschen. Der Tastsinn entwickelt sich bereits ab der achten Schwangerschaftswoche. Das Bedürfnis nach Nähe ist urmenschlich. Nur durch die Berührung der Mutter fühlt sich ein Baby sicher und lernt zu vertrauen. Auch wenn später die Schramme am Knie schmerzt und der erste Liebeskummer quält, hilft nichts mehr als eine Berührung von Mama. In den Arm genommen zu werden oder über den Kopf gestreichelt zu bekommen, dieses selige Gefühl wird wohl niemand leugnen.
Doch warum hören Erwachsene damit auf? Haben wir vergessen, wie gut es tut, oder fehlt wie immer die Zeit? Zwischen Smartphone, Stress und Singlehaushalt scheint der simple Hautkontakt unterzugehen. Diese Einschätzung teilt auch Tobias Frank, er ist Lehrer, Autor und Vorsitzender des Netzwerks Berührung. Die 2018 gegründete Initiative möchte dem vergessenen Heilmittel Berührung eine Lobby geben. „Ich finde es sehr schade, dass wir uns immer weniger berühren. Selbst in Familien oder Paarbeziehungen kommt Berührung manchmal viel zu kurz. Dabei braucht die Seele Berührung, genauso wie der Körper Nahrung." Viele Menschen bekommen diese Nahrung nicht mehr – sie hungern. „Berührung ist viel wichtiger für das körperliche und seelische Wohlbefinden, als die meisten Menschen meinen."
Dabei gibt es im physikalischen Sinne gar keine Berührung. Dr. Frank Seyler ist Allgemeinmediziner und Schmerztherapeut mit eigener Praxis in Saarbrücken, er erklärt: „Es ist nur die Wahrscheinlichkeit einer Annäherung zwischen den Rezeptoren zweier Personen. Wir haben Rezeptoren für sanfte Berührung, für dumpfen Druck, wieder andere reagieren auf Schmerzen." Doch offensichtlich reicht es, dass sich die kleinsten Teilchen (zum Beispiel Elektronen) zweier Menschen nahekommen. Berührung fühlt sich unbestritten echt an. So echt, dass unser Körper ein Strudel von Hormonen und Neurotransmittern ausschüttet.
Zum Beispiel Oxytocin, auch als Kuschelhormon bekannt. Oxytocin hemmt Cortisol, das wohl bekannteste und gefürchtete Stresshormon. Zunächst wirkt Cortisol anregend und leistungssteigernd. Ist der Cortisol-Spiegel jedoch chronisch hoch, steigt die Gefahr von Bluthochdruck, Schlaflosigkeit und einem schwächelnden Immunsystem. Über die Ausschüttung von Oxytocin erklären Wissenschaftler die gesundheitsförderliche Wirkung von Berührung. „Damit hat sie eine zentrale Bedeutung in der Gesundheitsprävention", so Tobias Frank. Dass sich der Körperkontakt auch noch gut anfühlt, verdanken wir Glückshormonen wie Endorphin und Dopamin, die bei jeder Berührung durch unsere Nervenbahnen feuern. „Alles, was im Hirn Dopamin ausschüttet, ist für unseren Körper wichtig. Berührung und sozialer Kontakt schütten sehr viel Dopamin aus", so Dr. Seyler.
Berührung entspannt, hält präventiv gesund und macht glücklich. Mehr noch, Berührung lindert sogar Schmerzen. Ein israelisches Forscherteam fand heraus, dass die haltende Hand des mitfühlenden Partners das Schmerzempfinden lindert. Als natürliches Schmerzmittel wirkt Berührung aber nicht immer gleich gut. Je empathischer der Berührende, desto größer der Effekt. Das heißt, eine liebevolle Umarmung eines Freundes kann unter Umständen heilsamer sein, als der anonyme Rat eines Mediziners.
Tobias Frank ist davon überzeugt, dass man für eine heilsame Berührung keine therapeutische Ausbildung benötigt. Im Gegenteil, jeder kann berühren und er plädiert für mehr Vertrauen in die eigenen Hände: „Jeder Mensch hat die Fähigkeit, Berührung zu schenken. Viel wichtiger als die Technik ist die Absicht. Wenn Berührung achtsam und liebevoll ist, dann ist sie heilsam. Und natürlich sollte sie auf Freiwilligkeit beruhen."
Im professionellen Setting, zum Beispiel beim Besuch eines Physiotherapeuten oder Arztes, wird sehr wohl eine gewisse Technik erwartet. Nun sucht man in der Regel einen Therapeuten erst auf, wenn es für Prävention zu spät ist. Dr. Seyler arbeitet auch mit Osteopathie, dessen Grundlage das Berühren von Muskeln ist. Durch einen ganz bestimmten Druck oder Zug lassen sich Spannungen lösen. Trotz aller wissenschaftlichen Erkenntnisse bleibt die Medizin hier evidenzbasiert, also auf Erfahrung beruhend. „Bei den allermeisten Patienten rufen die Techniken die gleichen Reaktionen hervor. 100 Prozent wissenschaftlich beweisen kann man es aber nicht. Wenn wir alle gleich behandeln könnten, dann wären ja alle gesund. Es steht immer das Individuum im Vordergrund und das entscheidet letztlich, ob eine Therapie greift oder nicht", so Dr. Seyler.
Diese Sichtweise, dass Berührung Empathie benötigt und diese innerhalb der Voraussetzungen des Empfangenden stattfindet, bestätigt auch Natalie Dörr. Sie ist Heilpraktikerin und leitet die Villa Vitalis in Saarbrücken, eine Einrichtung, die auch Massagen anbietet. „Ich kombiniere immer verschiedene Techniken und passe mich dem Körper und dem Menschen an. Keine Massage ist gleich." Schmerzen sind das Hauptmotiv ihrer Kunden, hauptsächlich Muskelverspannungen. Doch da ist noch etwas anderes. „Berührung löst immer auch emotional etwas aus. Es entsteht Nähe, und es öffnet sich eine Barriere. Manchmal möchten sich die Menschen zusätzlich den Ballast von der Seele reden. Wenn das muskuläre Gewebe beginnt weicher zu werden, merken sie, wie sehr ihr ganzes Leben eigentlich unter Spannung steht – Job, Familie, die schnelllebige Gesellschaft."
Berührung kann eine Schlüsselrolle dabei spielen, uns selbst wahrzunehmen. Weil wir manchmal mit Scheuklappen durchs Leben hasten, stolpern wir über unsere eigenen Bedürfnisse. Es ist, als ob die Berührung uns daran erinnert, dass wir fühlende Wesen sind. Sie erinnert uns an das Gefühl der Sicherheit, als wir als Baby im Arm gehalten wurden. Und diese Sicherheit braucht es, um auch die verdrängten und negativen Gefühle zu fühlen. Auch Tobias Frank berührt seit vielen Jahren in professionellen Settings andere Menschen, etwa mit Thai Yoga. Hier wird der Berührende passiv durch Yogapositionen geführt und dabei achtsam berührt. „Ich berühre niemals nur physisch, sondern gebe einen Anker der Sicherheit. Ich schenke einen Raum, sich selbst und alle Gefühle zu spüren. So können wir wahrnehmen, was gerade dran ist, um für sich selbst zu sorgen. Auch deswegen kann Körperarbeit einen wesentlichen Beitrag zur Heilung leisten."
Laut Natalie Dörr nimmt die Nachfrage nach Massagen seit einigen Jahren enorm zu. „Die Kunden kommen regelmäßiger und in kürzeren Abständen, auch wenn sie längst austherapiert sind. Es bleibt eine Sehnsucht, berührt zu werden." Wenn wir davon ausgehen, dass eine Berührung niemals nur körperlich ist, sollte man bei Massagen darauf achten, ob die Atmosphäre vertrauensvoll ist und dass man sich wohlfühlt. Tobias Frank ermutigt außerdem dazu, sich selbst Berührung zu schenken, „vor allem Kopf und Füße, vielleicht mit einem guten Öl. Auch Haustiere sind eine wunderbare Möglichkeit."
Am Ende sind die einfachen Dinge die wertvollsten. Berührung ist derart simpel, dass es für die Pharmaindustrie nicht lukrativ zu vermarkten ist. Ganz ohne Rezept und sicherlich kostenlos, könnten wir ja einfach wieder damit anfangen.