Über 30 Jahre wollte die Politik sie nicht wahrnehmen. Wer vor 20 Jahren vor arabischen Clans warnte, war sofort ein Ausländerfeind. Dabei hatten diese Großfamilien gar keine andere, als die illegale Chance.
Der Nieselregen prasselt leise auf das Vordach der kleinen Dönerbude an der Kreuzeskirchstraße in Essen. Trotz der Kälte steht ein Pärchen draußen vor dem Laden, beide mümmeln ihr Fladenbrot, starren ins triste Grau. Es gibt romantischere Augenblicke im Leben, als diesen, Ende November vergangenen Jahres. Ein langweiliger Samstagabend in der Essener Nordstadt geht seinem Ende entgegen. Die Glocke des Kirchturms schlägt die 23. Stunde, da wird es plötzlich hektisch. Innerhalb von Sekunden ist die Kreuzeskirchstraße voll mit Polizei. Drei komplette Hundertschaften haben Shisha-Bar und Spielhalle, das Telenet-Cafe und die beiden Spätis gestürmt. Das Pärchen hat lieber gleich die Flucht ergriffen. Man weiß nie, vielleicht wird ja noch geschossen. Razzia gegen einen arabischen Familienclan, der hier in der Essener Nordstadt längst das Regiment übernommen hat. Im Schlepptau hat die Polizei seit Neuestem den Zoll, das Ordnungsamt und die Steuerfahndung. Die ehemals stolze Ruhrstadt ist mittlerweile einer der Hotspots der Clan-Kriminalität in ganz Deutschland. Die Nordstadt hinter der Einkaufsstraße wird seit Jahren vom Al-Zein-Clan regelrecht beherrscht. Schutzgelderpressung ist offenbar an der Tagesordnung, das örtliche Parkhaus hat der Clan ebenfalls übernommen. Mieter von Geschäfte in „guter Lage" wurden von den Clan-Mitgliedern kurzerhand auch mit Gewalt zur Aufgabe gezwungen. Andere gaben aus Angst von sich aus Fersengeld. Im September 2015 eskalierte die Lage ein weiteres Mal. Ein Dönerbudenbesitzer wurde gegen Mittag kurzerhand an seinem Spieß „weggeschossen", wie es im Jargon heißt. Er wollte sich einfach nicht den Al-Zeins unterordnen. Der Mann überlebte schwer verletzt und gab dann seinen Döner-Imbiss doch auf, zog weg.
Konzept der Nulltoleranz
Die damalige rot-grüne Landesregierung unter Ministerpräsidentin Hanelore Kraft (SPD) mit Innenminister Ralf Jäger (SPD) schreckte mal wieder auf. Doch schwere Gewalttaten dieser Qualität waren in Bochum, Dortmund, Duisburg und eben in Essen nichts Neues, wiederholten sich ständig. Über Jahre passierte augenscheinlich nichts. Die Polizei warnte, die Staatsanwaltschaft machtlos, beide Ermittlungsbehörden personell chronisch unterbesetzt. Die Menschen in Angst. Die politische Quittung für das jahrelange Weggucken folgte im Mai 2017. Rot-Grün verlor krachend die Wahl. NRWs neuer Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) setzt fortan auf die Karte innere Sicherheit. Sein wichtigster Mann im Kabinett ist folglich Innenminister Herbert Reul. Dieser griff sofort bei Amtsantritt durch, 2.300 neue Polizeibeamte vor allem für den Ruhrpott, dazu 500 weitere Stellen in der Polizeiverwaltung. Seit Reul Innenminister ist, wird gegen kriminelle Clans offensiv vorgegangen. Speziell für Essen gilt das Konzept der Nulltoleranz. Das heißt, ständige Präsenz der Staatsmacht in den Problembereichen, Polizeikontrollen bei kleinsten Vergehen. Falsches Parken von Nobelkarossen führt gleich mal zur größeren Polizeiaktion. „Immer schön den Druck auf dem Kessel halten und die Kriminellen bei ihren Geschäften stören", bringt Innenminister Reul das Konzept auf den Punkt. Das dies auf Dauer nicht reichen wird, ist auch Reul klar. Die Politik ist gefordert, doch das geht nicht auf Landesebene, sondern nur bundesweit. In Bremen, Niedersachsen und Berlin rennt er mit seinem Vorhaben, der „konzertierten Bekämpfung" der Clan-Kriminalität bei seinen Innenministerkollegen offene Türen ein. Gerade an der Spree sind die kriminellen Machenschaften der arabischen Großfamilien nichts gänzlich Neues und zumindest der Polizei seit spätestens Mitte der 80er-Jahre wohlbekannt. Doch auch in der Bundeshauptstadt schlief und schläft die Politik diesbezüglich immer noch tief und fest. Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) versucht zwar durchzugreifen, hat aber innerhalb der rot-rot-grünen Landesregierung einen schweren Stand. Bei dieser politischen Konstellation Normalfall für das Innenressort. Keiner weiß, woher sie wirklich kamen.
Im Frühsommer 1975 begann der libanesische Bürgerkrieg. Die pulsierende Hauptstadt Beirut, damals auch das Paris des Nahen Ostens genannt, wurde in eine völlige Schuttwüste verwandelt. Die Folge, wie immer bei solchen Tragödien, Flucht und Vertreibung. Für viele gab es nur einen sicheren Ort, wo sie leben wollten: Berlin. Der Weg damals war relativ einfach. Über den Ostberliner Flughafen Schönefeld konnten die Flüchtlinge aus dem Libanon unbehelligt nach Westberlin einreisen und waren damit Asylbewerber für die gesamte Bundesrepublik. Auch Dr. Ralph Ghadban kam damals als 18-Jähriger nach West-Berlin und blieb dort in der Flüchtlingshilfe hängen. Er erinnert sich zurück: „Wir kamen nach Ausbruch des Bürgerkriegs 1975 als Flüchtlinge aus dem ganzen Libanon über Ost-Berlin. Hier erfolgten keine Grenzkontrollen in Richtung Westen. Wir beantragten Asyl in Berlin und wurden verteilt auf verschiedene Bundesländer – vor allem nach Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Bremen." Damit erklärt sich auch, warum ausgerechnet in diesen vier Bundesländern diese großen Clan-Strukturen entstehen konnten. Das wäre ja nicht weiter schlimm gewesen, schließlich gibt es auch deutsche Großfamilien. Aber als Asylanten wurden die Flüchtlinge, die über den Libanon kamen und deren tatsächliche Staatszugehörigkeit in den meisten Fällen nicht geklärt werden konnte, nicht anerkannt. Es gab zwar keinen Aufenthaltstitel, „aber hier gab es einen Abschiebestopp, viele erhielten daher als Staatenlose direkt eine Duldung und blieben im Land. Doch nach und nach haben sie ihre Familien nachgeholt und dann hier Wurzeln geschlagen, so sind die große Netzwerke entstanden", bringt es Dr. Ralph Ghadbau auf den Punkt. Nur mit der Duldung gab und gibt es bis zum heutigen Tage keine Arbeitsgenehmigung. Die Großfamilien aus dem Libanon waren zum Nichtstun bei Sozialhilfe verurteilt. Für vor allem junge Menschen wenig befriedigend. Was blieb, waren illegale Jobs und damit die Garantie, restlos auf die schiefe Bahn zu geraten. Nach deutschem Rechtsverständnis. Denn viele Betroffene, die vor Gericht landeten, argumentierten: „Drogenhandel ist auch eine Form von Handel." Doch aus dem Klein-Dealer wurden große und die fantastischen Gewinne durch Koks und Heroin wurden umgehend weiter investiert. In Nachtclubs, Spielsalons und schließlich auch Immobilien.
Dr. Ralph Ghadban kritisiert schon seit Jahren das Versagen von Politik und Ermittlern. „Die Politik hindert die Polizei, das Problem zu sehen. In Berlin zum Beispiel weigert man sich von Clans zu sprechen. Man will die Minderheiten nicht stigmatisieren", bringt Ghadban die kollektive Hilflosigkeit auf den Punkt. Doch auch in NRW hat man jahrelang die Augen verschlossen. „In Nordrhein-Westfalen reden sie von arabischstämmigen Kriminellen. Der Begriff ist Unsinn, denn da fallen auch Menschen aus Saudi-Arabien oder den Komoren drunter."
Das kann der Berliner Sicherheitsexperte Michael Kuhr alles nur bestätigen. Der sechsfache Europameister im Kickboxen kennt die Clan-Szene aus nächster Nähe wie kein Zweiter. „In Berlin sind sie unfähig zu sagen, wie viele Clans es überhaupt gibt. Es heißt zwischen sechs und 20 Clans. In 40 Jahren hat es die Regierung nicht geschafft, die Clans überhaupt zu benennen", regt sich Kuhr über das Versagen der Politik auf. Der 57-Jährige nennt allein für Berlin schon sieben Großfamilien mit Hunderten von Familienangehörigen: Miri, Al-Zein, Remmo, Abou Chaker, Chahrour, Berjaoui. „Das Problem der Ermittler fängt schon damit an, dass sie nicht wissen, wie die Namen nun richtig geschrieben werden", so Kuhr über die ganz simplen Probleme der Polizei. Damit können Straftaten sehr häufig nicht zweifelsfrei einer bestimmten Person zugeordnet werden. Im Übrigen unterscheidet sich die „Clan-Kriminalität grundsätzlich von Organisierter Kriminalität (OK). Bei der klassischen OK tut man sich freiwillig zusammen, um eine Straftat zu begehen. In Clans wird man hineingeboren. Die halten dicht, die Polizei kann sie nicht unterwandern, mit gewöhnlichen Ermittlungsmethoden ist da nichts zu machen", sagt Michael Kuhr.
„Larifari-Politik ohne klare Regeln"
Er selbst stand jahrelang unter Polizeischutz, nachdem er gegen ein Familienmitglied des Abou-Chaker-Clans ausgesagt hatte. Kuhr erkannte Momo Abou Chaker auf einem Überwachungsvideo vom Raub auf das Poker-Turnier im „Grand Hyatt Hotel" am Potsdamer Platz vor beinahe genau neun Jahren. Daraufhin drohte der Clan Kuhr mit einem Mordanschlag. Erst nach Jahren konnte der ehemalige Profi-Kickboxer in einem persönlichen Gespräch und einer Gefährdungsansprache bei der Mordkommission die Abou Chaker von ihrem Mordplan abbringen. „Durch meinen Sport kannten wir uns schon seit Jahren, ich hatte damals den Auftrag, das Poker-Turnier zu bewachen und dann der Überfall von meinen angeblichen Freunden", erzählt Kuhr.
Neben der hohen Beute spielte damals noch ein weiterer Grund eine Rolle, warum ausgerechnet das erste europäische Poker-Turnier überfallen wurde. Es gehört innerhalb der Clans zum guten Ton, mit spektakulären Verbrechen auf sich aufmerksam zu machen. Sozusagen, ein sportlicher Ansatz um Respekt zu erhaschen. Immer wieder gern wird in Berlin die Juwelierabteilung des KaDeWe überfallen. Beim letzten großen KaDeWe-Raub mit spektakulärem Vandalismus, kam es dann allerdings zu keiner Verurteilung. Zwei Mitglieder der Remmo-Familie saßen zwar auf der Anklagebank, man hatte entsprechende DNA in der Juwelierabteilung des größten europäischen Kaufhauses sichergestellt. Doch diese DNA konnte nicht zu 100 Prozent einem Täter zugeordnet werden. Bei den beiden handelt es sich dummerweise um eineiige Zwillinge.
Für richtig großes Aufsehen sorgte vor zwei Jahren der Raub im Bode-Museum im Herzen der Hauptstadt. Dort wurde eine der größten Goldmünzen der Welt gestohlen, die „Big Maple Leaf". Das 3,75 Millionen teure Objekt ist bis zum heutigen Tag spurlos verschwunden, sehr wahrscheinlich wurde sie zersägt und als Bruchgold verhökert. Auf der Anklagebank sitzen derzeit drei Angeklagte, wieder aus der arabischen Großfamilie Remmo. Anhand von DNA-Spuren konnte die Kripo den Verdacht bis hin zur Anklage diesmal eindeutig erhärten. Ein Erfolg, der eher selten vorkommt. Ein weiteres Novum in dem Fall: Die Berliner Polizei beschlagnahmte im vergangenen Sommer 77 Immobilien der Remmos. Wert: zehn Millionen Euro. Dabei nutzten die Sicherheitsbehörden ein neues Gesetz. Es gilt seit 2017 und macht die Sicherstellung von Vermögen möglich, wenn es im Zusammenhang mit einer Straftat stehen könnte.
Auch Sicherheitsmann Michael Kuhr ist erstaunt über die geballten bundesweiten polizeilichen Aktivitäten der letzten Monate. „Ich war immer ein Freund der Polizei, auch wenn ich sehr viele Freunde in den Clans habe. Aber eines ist klar: Die Polizei braucht hier einen sehr langen Atem", erzählt er. Schaut Kuhr allerdings in die Zukunft, ist von seinem Optimismus nur noch wenig zu spüren. Grund dafür „ist die Larifari-Politik, die einfach keine klaren Regeln aufstellt. In zehn Jahren werden wir hier ähnliche Verhältnisse haben wie in Marseille. In Ansätzen haben wir sie doch schon heute." Das Hauptproblem, so der Sicherheitsfachmann, sind die vielen Menschen, die in den letzten Jahren nach Deutschland gekommen sind und sich nicht integrieren wollen. „Da müssen wir ansetzen. Wer hierherkommt, muss Deutsch lernen, einer Arbeit nachgehen und unsere Spielregeln akzeptieren. Ohne knallharte Regeln werden wir Recht und Ordnung nicht durchsetzen können."