Arcachon im Südwesten Frankreichs lockt nicht nur mit Europas höchster Wanderdüne, sondern auch mit einer ganz besonderen Luft.
Frühmorgens hat man die Düne ganz für sich allein. Der Sand unter den Füßen fühlt sich noch kühl an. Auf der Landseite haucht der Pinienwald seinen Morgennebel in den Himmel. In der Bucht von Arcachon liegt das Wasser platt wie ein Spiegel. Allein die Brandseeschwalben sind schon wach und begrüßen den Sandwanderer mit Geschrei. Kurz darauf kriecht die Sonne im Westen als Feuerball über den Horizont, genauso leuchtend, wie sie am Abend zuvor im Osten ins Meer plumpste. Aber das Beste auf dem Dünengipfel ist die Luft: ein würziger Duft aus dem Harz der Pinienwälder vermischt mit der Salzluft des Meeres.
„Diese Luft ist Balsam für die Seele", schwärmt Mariem Naoui. Die Politik- und Biologiestudentin arbeitet für das Informationscenter der Düne und beschäftigt sich mit der Organisation von Naturschutz und Besucherandrang. Jedes Jahr kraxeln etwa zwei Millionen Menschen auf die „Dune de Pilat" im Naturschutzgebiet Landes de Gascogne an der Westküste Frankreichs. Mit 110 Metern ist sie die höchste Wanderdüne Europas.
„Wir wollen die Urlauber animieren, hier oben ihre Sinne zu benutzen: Den Wind fühlen, das Salz schmecken, das Harz riechen", sagt die 29-Jährige. Oft wird sie von Interessierten angesprochen. Dann setzt sie sich in den Sand, schiebt ihn von links nach rechts und wieder zurück und erklärt dabei, wie die Düne – deren Sand nicht etwa aus der Sahara, sondern aus dem Zentralmassiv stammt – aufgrund von Wind und Meeresströmung Richtung Wald rollt. „Jedes Jahr legt sie dabei bis 5,5 Meter zurück". Um Mariems Hals baumelt eine lange Kette, die Ohrringe glitzern in der Sonne. Mit ihren dunklen Augen und schwarzen Haaren könnte die Französin auch aus Marokko stammen. „Ja, mein Vater hat Wurzeln in Algerien, Tunesien und Sizilien, die Familie meiner Mutter war in Frankreich, Spanien und Island zu Hause. Ein Vorfahr war sogar König von Island. Er hatte schwimmbadblaue Augen", lacht sie.
Schließlich zeigt sie hinüber auf die vorgelagerte Sandbank, auf ein kugeliges Gebäude, das wie ein übergroßer halber Golfball aussieht. „Dort in der Hütte habe ich zwei Wochen lang verbracht und Wasservögel beobachtet." Denn die Banc d’Arguin ist ein bedeutendes Brutgebiet für Brandseeschwalben.
Ärzte loben Heilwirkung
Für Forscher ist die sich ständig verändernde Düne eine Schatztruhe, da immer wieder fossile Schichten freigelegt werden, aus denen man Klimaveränderungen vergangener Perioden erkennen kann oder die Aufschluss über das Leben zu früheren Zeiten geben. So haben Archäologen Reste von Tontöpfen gefunden, mit denen Einheimische schon im 19. Jahrhundert das Harz der Strandkiefern ernteten.
Im Laufe der Jahrhunderte lobten immer mehr Ärzte die Heilwirkung der harzigen Seeluft, und so entwickelte sich aus der Sommer-Urlaubsregion bald auch ein Winterreiseziel für reiche Lungenkranke. Dafür baute man auf dem Hügel in der benachbarten Stadt Arcachon hübsche Chalets nach Schweizer Vorbild und nannte den Stadtteil fortan Winterstadt. Auch Kaiserin Sisi kurte eine Zeit lang in Arcachon. Die breiten Stadtstrände mit ruhigem Wasser sind heute beliebtes Urlaubsziel für Familien und junge Leute. Wer hohe Wellen will, fährt mit dem Ausflugsschiff hinüber zur Halbinsel Cap Ferret, die wie ein Zeigefinger parallel zur Düne liegt, umrandet von feinem Sand. An der Außenkante brüllt der Atlantik seinen Schaum vor die Füße der Baywatcher. An der Innenseite dümpelt das Wasser friedlich wie in einer ablaufenden Badewanne. Wenn Ebbe die Austernbänke freilegt, kann man den Austernbauern bei der Arbeit zusehen.
Sébastian Meynard ist einer von 350 Austernbauern in der Region. Seine Farm betreibt er in L’Herbe, einem idyllischen Dorf mit plätscherndem Brunnen und Blumen vor den Häusern. Hier bietet er auch Besuchern frische Austern an. Gerade ist er dabei, Meerwasser ins Austernbecken zu leiten. „Es ist wichtig, die Temperatur von 22 Grad zu halten", sagt er. Schon als Kind ist Sébastian mit seinem Vater, einem Fischer, aufs Meer gefahren. Mit 14 hatte er seinen ersten Job im Hafen von Arcachon und fuhr später wochenlang aufs Meer. Als er seine Frau kennenlernte, entschied er sich für das Austerngeschäft. „Dabei bin ich nur höchstens eine Gezeitenlänge unterwegs" sagt er. Obendrein fährt er jeden Sonntag nach Bordeaux, um dort auf dem Markt seine Austern zu verkaufen.
Dank der guten Aufzuchtbedingungen im Arcachon-Becken schmecken sie hier nicht so fischig-salzig wie anderswo. Traditionell isst man sie in der Region mit gegrillter Bratwurst. Doch auf Cap Ferret haben die Austernbauern keine Lizenz zum Kochen und servieren sie deshalb mit Brot. Das Austerngeschäft läuft gut, da am Zipfel vom Cap Ferret Reiche und Prominente einen Rückzugsort gefunden haben. Doch auch hier nagen Wind und Wasser stetig an den Ufern. Der Leuchtturm steht vorsichtshalber weit im Landesinneren. Von oben blickt man über die Bucht bis hin zur Düne. Sie sieht von hier aus wie ein im Pinienwald gestrandeter weißer Wal.
Radelt man hinter der Düne ein Stück durch den Wald, trifft man womöglich Luc Leneveu, einen blonden Mann in Jeans und T-Shirt mit Dreitagebart und einer markanten Nase. Er und seine Kollegen haben eine schonende Art gefunden, das Harz der Seekiefern zu melken. Es enthält besonders wertvolle ätherische Öle, die für die Herstellung von Salben und Duschölen in der Aroma- und in der Atemtherapie verwendet werden. „Früher war die Harzernte schwere körperliche Arbeit", sagt Luc. Um an den klebrigen Saft zu kommen, wurde die Baumrinde abgeschält und der Stamm mit Säure eingepinselt. Heute stanzt man ein Loch in den Stamm, schmiert eine biologische Paste hinein und stülpt eine Plastiktüte davor, damit das Harz hineinrinnen kann. So melkt sich der Baum praktisch von selbst – und er regeneriert viel schneller. Obwohl Luc auch oft im Büro sitzt, liebt er die Arbeiten draußen in den Pinienwäldern. „Wegen der frischen Luft!" schwärmt er. Dabei leuchten seine Augen, als wäre er mal König von Island gewesen.