Phasen massenhaften Artensterbens hat es in der Geschichte unseres Planeten immer wieder gegeben. Seit dem 17. Jahrhundert wird der stete Rückgang der biologischen Vielfalt aber maßgeblich vom Menschen verursacht. Dr. Arnulf Köhncke, Leiter des Artenschutz-Teams beim WWF Deutschland, findet klare Worte.
Wir erleben derzeit das größte Artensterben seit dem Ende der Dinosaurierzeit. Global sind die Bestände von Wirbeltierarten seit 1970 um 60 Prozent geschrumpft. In Süd- und Zentralamerika gingen die Größen der untersuchten Populationen von Säugetieren, Vögeln, Fischen, Amphibien und Reptilien gar um 89 Prozent zurück. In der Europäischen Union ist seit 1980 jeder zweite in der Agrarlandschaft beheimatete Vogel verschwunden. Das sind 300.000 Millionen Vögel. In Deutschland sank die Masse von Fluginsekten wie Hummeln, Bienen oder Faltern in den letzten 30 Jahren um durchschnittlich 76 Prozent. Immer mehr Arten geraten damit an den Rand ihrer Existenz: Von den weltweit fast 97.000 untersuchten Tier- und Pflanzenarten gilt fast ein Drittel als bedroht. In Deutschland geht es unter anderem Rebhuhn, Feldhamster und zahlreichen Wildbienen schlecht.
Die Krise der Arten ist menschengemacht: Wir holzen zu viel Wald ab. Wir zerschneiden den Lebensraum von Pflanzen und Tieren mit Straßen, Schienen und Siedlungen. Wir planen Natur bei unserer Entwicklung nicht hinreichend mit ein. Wir überbeanspruchen Luft, Boden und Wasser. Wir drehen am Thermostat der Erde. Wir plündern die Weltmeere und müllen sie zu. Wir wildern, überfischen, übersammeln. Derzeit stehen dadurch etwa der Kalifornische Schweinswal und das Sumatra-Nashorn am Abgrund des Aussterbens.
76 Prozent weniger Fluginsekten
Viele „unscheinbare" Arten verschwinden still und leise. Nicht jedes Tier ist so populär wie Tiger oder Elefant. Aber jede Tier- und Pflanzenart ist einzigartig und wichtig als Teil eines komplexen ökologischen Netzwerks mit vielfältigen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen.
Der Mensch steht nicht über den ökologischen Netzwerken, sondern ist fest mit ihnen verwoben. Sie versorgen uns mit Nahrung, frischem Wasser, sauberer Luft und Energie. Sie geben uns Arznei und Möglichkeiten zur Erholung. Gesunde und vielfältige ökologische Systeme sorgen für Bestäubung und die Ausbreitung von Samen. Sie dämmen Schädlinge und Krankheiten ein. Sie schützen unser Klima. Wer es ökonomisch aufgelöst haben möchte: Geschätzt erbringt die Natur mit ihrer Vielzahl an Lebewesen, ihrer Mannigfaltigkeit an Lebensräumen und ihrer genetischen Varianz eine ökonomische Wertschöpfung von rund 100 Billionen Euro jährlich. Biologische Vielfalt ist keine nette Zugabe, sondern unsere Lebensgrundlage. Gerade in Südamerika, Afrika und Asien hängen viele Menschen von den natürlichen Ressourcen um sie herum ab. Wir sägen am Ast, auf dem wir sitzen.
Viel Zeit bleibt nicht, um den Verlust biologischer Vielfalt zu stoppen. Aber die Wende ist möglich. Immer mehr Menschen versuchen, weniger Plastikmüll zu verursachen, steigen aufs Rad statt ins Auto oder kaufen Bio-Lebensmittel aus heimischem Anbau. Sie wollen, dass Politik und Wirtschaft endlich konsequent umsteuern. Mit der bislang höchsten Beteiligung an einem Volksbegehren in der bayerischen Geschichte haben die wahlberechtigten Bayern jüngst für mehr Natur- und Artenschutz in ihrem Bundesland votiert. Bei #FridaysForFuture fordern Schülerinnen und Schüler in vielen Ländern der Erde mehr Taten statt Worte beim Klimaschutz. Es entsteht eine facettenreiche, kreative und weltweite Bürgerbewegung für die Vielfalt des Lebens auf dieser Erde.
Sie kann in den nächsten Jahren den entscheidenden Unterschied machen – für Arten wie das Sumatra-Nashorn, den Feldhamster, den Kalifornischen Schweinswal und letztlich für uns Menschen selbst.