Immer mehr deutsche Städte stehen vor dem Kollaps. Keine Chance, ihre Altschulden loszuwerden. Nur eine Entschuldung kann die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse noch retten.
Eigentlich müsste das Bündnis ein Schwergewicht in der politischen Diskussion sein. 70 Städte aus acht Bundesländern, die zusammen rund neun Millionen Einwohner repräsentieren, haben sich im Aktionsbündnis „Für die Würde unserer Städte" zusammengeschlossen, um sich das notwendige Gehör zu verschaffen.
Von Bochum über Koblenz, Schwerin oder Saarbrücken bis nach Mörfelden in Hessen: Sie alle haben nach Jahrzehnten der zwangsläufigen Mangelwirtschaft Altschulden angehäuft. Zusammen 50 Milliarden Euro, Tendenz garantiert steigend.
Der Saarbrücker Bürgermeister Ralf Latz, seit Kurzem Sprecher des Bündnisses, befindet: „Die Situation ist mehr als irreal, wir müssen Kredite aufnehmen, um die Zinsen zahlen zu können." Bei Monopoly ist da längst Spielschluss, doch die Bürgermeister müssen weitermachen. Die Sozialkosten, vom Bund beschlossen, sprengen die kommunalen Haushalte. Nach einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung lag die „Armutsquote", also der Anteil der Sozialleistungsempfänger an der Bevölkerung deutschlandweit, bei 10,1 Prozent. In Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern erreichte sie dagegen 14 Prozent. Die Angaben beziehen sich auf das Jahr 2016, das letzte Jahr, in dem flächendeckend Daten ausgewertet wurden (siehe Infografik).
Die Schere geht weiter auseinander
Jede Investition etwa in Infrastruktur wird angesichts dieser Entwicklung fast unmöglich. Der Stadtkämmerer aus Wuppertal, Johannes Slawig, zuckt mit den Schultern. „Da ist schon lange kein Schwimmbad mehr, dass ich zumachen könnte, und städtisches Personal kann ich auch nicht mehr abbauen, das läuft eh schon seit Jahren auf äußerster Sparflamme." Ähnlich sieht es auch in Pirmasens am Rande des Pfälzer Waldes aus. Die ehemalige Schuhstadt hat, wie die Städte an Rhein, Ruhr und Saar, eine Rosskur hinter sich. Oberbürgermeister Bernhard Matheis rechnet die steigenden Mehraufwendungen für die sozialen Ausgaben seiner 45.000 Einwohner Stadt in den vergangenen Jahren vor: „In 2010 betrugen die sozialen Kosten knapp 53 Millionen Euro, unsere Einnahmen lagen damals bei 23 Millionen. Im vergangenen Jahr, 2018, mussten wir für die sozialen Aufgaben fast 74 Millionen Euro aufwenden, bei 45 Millionen Euro Einnahmen." Der Fehlbetrag bei Einnahmen und Ausgaben konnte nur durch Kassenkredite finanziert werden. Und trotz zuletzt guter Einnahmen hat sich an der grundsätzlichen Situation nichts geändert, erläutert der Pirmasenser OB: „Wir hatten im vergangenen Jahr ein extrem hohes Gewerbesteueraufkommen. Doch davon konnte überhaupt nichts für Zukünftiges investiert werden", sagt der Rathauschef aus Pirmasens. Die sprudelnden Steuereinnahmen wurden komplett von den sozialen Aufgaben seiner Stadt aufgesogen. Bernhard Matheis schlägt Alarm, ohne Hilfe vom Bund und den Ländern kommen die Städte mit den hohen Sozialausgaben nicht raus aus der Schuldenfalle. „Wir müssen jetzt reagieren, die Konjunktur brummt derzeit noch, die Steuereinahmen sind hoch und die Zinsen niedrig." Aus Sicht der Bürgermeister ideale Voraussetzungen für die Initiative zu einer neuen Gemeinschaftsaufgabe: Altlastentilgung der Städte. Dabei schwebt den Städten eine Drittelung des 50-Milliarden-Euro-Schuldenberges vor: ein Drittel der Bund, ein Drittel die Länder und der Rest die Kommunen. „Nur so werden wir überhaupt wieder handlungsfähig, ansonsten droht eine Spaltung der städtischen Gesellschaften in Deutschland", so Matheis. Die Städte mit weniger Sozialkosten können ihren Bürgern etwas bieten, die Städte mit Altlasten werden immer unattraktiver. Es droht ein Exodus, Bewohner ziehen weg, so das Horrorszenario der betroffenen Bürgermeister.
Mit der Einsetzung der Kommission für gleichwertige Lebensverhältnisse hat die große Koalition in Berlin zumindest signalisiert, dass sie bereit ist, das Problem anzugehen. Eine der Arbeitsgruppen der Kommission soll sich ausdrücklich mit der Frage der Altschuldenproblematik befassen, Vorschläge sollen noch vor der Sommerpause vorliegen. Viele von den Bürgermeistern angesprochene Bundespolitiker hätten die „Notwendigkeit der finanziellen Unterstützung" der leidenden Städte in blumigen Worten bereits eingestanden, sagt Matheis. Passiert ist aber bislang nichts. Auch Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat den Bürgermeistern aufmerksam zugehört, konkrete Zusagen wollte aber auch er nicht geben. Scholz war bis vor zwei Jahren erster Bürgermeister Hamburgs. Kassenkredit ist in einer der reichsten Städte Deutschlands ein Fremdwort.