„Die AfD ist ein Symptom und kein Problem." Das sagt jedenfalls Jörg Schönenborn. Der ARD-Experte für Wahlen und das Politbarometer sieht Angebotslücken in der deutschen Parteienlandschaft und stellt AfD-Wähler nicht pauschal in die rechte Ecke.
Während die Briten mit dem Brexit kämpfen, die USA unter Präsident Donald Trump gespaltener denn je sind, Frankreich mit innenpolitischen Problemen zu tun hat, Länder wie Polen oder Ungarn den Rechtsstaat aushöhlen, scheint Deutschland seit Langem auf einer Insel der Glückseligkeit zu leben. Dieses Grundgefühl hat TV-Moderator und WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn. Er weiß, wie die Deutschen ticken, wenn es darum geht, wem die Deutschen ihre Stimme bei Bundes- oder Landtagswahlen geben. Der studierte Politologe, vielen Fernsehzuschauern von den Wahlanalysen am Wahlabend bekannt, sieht diese Glückseligkeit zwar mehr und mehr bedroht, spricht aber nicht gleich von einer Gefahr für die Demokratie in Deutschland. Schönenborn war Ende März zu Gast auf Einladung der Arbeitskammer des Saarlandes, der Stiftung Demokratie Saarland und des Kulturforums der Sozialdemokratie in Saarbrücken.
Politischer Anti-AfD-Reflex
Die Parteienlandschaft hat sich in vielen Ländern geändert, Populisten sind auf dem Vormarsch und auch Deutschland kann sich diesem Trend nicht entziehen. Die AfD habe mit ihren 12,6 Prozent Wählerstimmen bei der letzten Bundestagswahl und dem Einzug in die Landesparlamente die etablierte deutsche Politik gehörig durcheinandergewirbelt und für Reflexe gesorgt: Alle gesellschaftlichen Gruppierungen von den Parteien über die Gewerkschaften bis hin zur Kirche sehen in der AfD ein Problem, das es zu bekämpfen gilt. Doch Schönenborn hält dagegen. „Die AfD ist ein Symptom und kein Problem." Die rund sechs Millionen Bundesbürger, die der AfD ihre Stimme gegeben haben, einfach in die rechte Ecke zu stellen, sei zu kurz gesprungen. „Mehr als 60 Prozent der Bürger haben die AfD aus Enttäuschung gewählt, nur 30 Prozent sind Überzeugungswähler. Umgerechnet auf alle Wähler macht das gerade mal vier Prozent aus", erklärt Schönenborn. Das haben umfangreiche Analysen und Befragungen gezeigt. Die AfD-Wähler stammen aus allen sozialen Schichten, kommen von politisch rechts bis links. „Es stimmt nicht, dass die AfD eine Partei der Armen und Entrechteten ist. Es ist eher ein kulturelles als ein soziales Phänomen."
Worin dieser Erfolg begründet liegt, ließe sich laut Schönenborn relativ leicht erklären. „In der deutschen Parteienlandschaft fehlt es an Angeboten. Und diese Lücke hat die AfD mit dem sichtbaren Thema Flüchtlingskrise für sich genutzt." Ursprünglich ist die Partei angetreten, um den Euro zu bekämpfen. Und eigentlich war sie schon so gut wie weg vom Fenster, ähnlich dem Aufstieg und Fall der Piratenpartei. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015 ist die AfD dann wie Phönix aus der Asche wieder auferstanden. „Die Partei hat es geschafft, Migration und Flüchtlinge in Deutschland zu dem Thema schlechthin zu machen", sagt der TV-Moderator. Den Grund dafür, dass so etwas gelingen kann, sieht Schönenborn aber in der Globalisierung und ihren Folgen. „Hierzulande gibt es Menschen, die Globalisierung und Digitalisierung und das damit verbundene Veränderungstempo als Chance sehen und am liebsten alle Menschen ins Land lassen würden. Und es gibt die andere Hälfte, die Angst hat und sich als Verlierer dieser Entwicklung sieht."
Ein Staat, der die Lage nicht im Griff hat. Junge muslimische Männer, die in Konkurrenz zu den Deutschen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt treten. Der Islam, der die deutsche Kultur zunehmend verdrängt. Diese AfD-Thesen sind Wasser auf die Mühlen einiger Wähler, oder anders ausgedrückt: Die Hauptkonfliktlinie verläuft zwischen „Bewahren" und „Verändern" in Deutschland.
Die ersten Anzeichen der Veränderung sieht Schönenborn schon viel früher als 2015. 2005 und 2009 haben die Volksparteien SPD und CDU zusammen massiv Wählerstimmen verloren. Und das war erst der Anfang. 2017 haben die beiden großen Parteien ihr schlechtestes Wahlergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik eingefahren. Rund fünf Millionen Wähler haben den etablierten Parteien den Rücken gekehrt und suchen eine neue Heimat.
Gerade die SPD tue sich nun schwer, einen Neuanfang zu starten. „Die Veränderungen im Arbeitsleben, die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Umwandlung in Hartz IV sowie die damit verbundene Entwertung der eigenen Lebensleistung und das Hickhack um die ungeliebte Groko sind wesentliche Gründe für den Wählerschwund bei der SPD", erklärt Schönenborn. Früher stand die Partei für soziale Gerechtigkeit, etwa für Nichtakademikerkinder, die studieren können oder sozialen Wohnungsbau. Und welche Zukunftsthemen besetzt die SPD heute, fragt Schönenborn? Die SPD habe früher Zukunft versprochen, heute spiele sie auf Halten mit ihren Begriffen wie Respektrente oder Bürgergeld. Wer glaube denn bei den Jüngeren, dass die Rente 2040 sicher sei?
„Bewahrer" gegen „Veränderer"
Aber auch die CDU sei gespalten. Das habe die Wahl zur Vorsitzenden deutlich gezeigt: das Lager Annegret Kramp-Karrenbauers und das Lager Friedrich Merz. Außerdem habe die CDU mit AKK noch keine Regierungserfahrung. Sowohl CDU als auch SPD seien froh, die Kandidatenkür zum Bundeskanzler möglichst auf die lange Bank schieben zu können. Die etablierten Parteien müssen sich allerdings damit abfinden, dass die Parlamente künftig mit mehr Parteien bunter werden. Vorbei die Zeiten einer absoluten Mehrheit oder einer Zweierkoalition als Regierung. Höchstens Schwarz-Grün könnte im Bund noch mehrheitsfähig zustandekommen, wagt Schönenborn einen Ausblick weit in die Zukunft.
„In einer Welt, die immer komplizierter und komplexer wird, verlangen die Menschen einfache Antworten. Das lehrt uns die Erfahrung." Wer das verstanden hat und einfache Antworten auf komplexe Themen wie die Flüchtlingskrise gibt, punktet bei denen, die sich mit Fakten wenig auseinandersetzen. Dabei gilt Deutschland eigentlich als beispielhaft, was die Integrationsleistung angeht. 1949 gab es so gut wie keine Ausländer, 1963 die erste Million Gastarbeiter, 1969 rund zwei Millionen und heute haben in Deutschland von den rund 80 Millionen Menschen 25 Prozent Migrationshintergrund. Und erstaunlicherweise haben die wirtschaftlich erfolgreichsten Metropolen und Regionen in Deutschland wie Frankfurt, Hamburg und München den höchsten Migrationsanteil. Früher sei Migration nie ein großes Thema bei Wahlen in Deutschland gewesen und so empfiehlt Schönenborn den anderen Parteien und Gesellschaftsgruppierungen, sich intensiv mit den Symptomen der AfD zu beschäftigen. „Verbote bringen uns nicht weiter. Im Gegenteil: Sie verstärken das Gefühl bei den Enttäuschten, der Staat lasse sie im Stich. Das treibt der AfD immer mehr Wähler zu", mahnt der Wahlexperte. „Darauf einschlagen macht sie letztendlich nur noch attraktiver."
Trotz dieser Entwicklungen sieht Schönenborn die Demokratie in Deutschland nicht in Gefahr und scheut auch nicht den Vergleich mit den USA, die extrem gespalten und mit Trump einen Präsidenten gewählt haben, der populistischer nicht sein könnte. Aber die Demokratie werde anstrengender und sie werde sich auch verändern, so seine Prognose. Wichtig seien neue Angebote und Alternativen, eine mediale Öffentlichkeit und ein vielschichtiges Engagement aller Bürgerinnen und Bürger. Der Trend geht momentan dahin, dass Menschen ein hohes Engagement für eine Sache an den Tag legen, wie die Bewegung „Fridays for Future" zeigt. „Demokratie ist eben ein ständiger Veränderungsprozess und keine Standby-Veranstaltung. Das müssen wir aushalten. Und können das auch."